Kraftwerk Lippendorf

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Fachsicht(en): Denkmalpflege
Gemeinde(n): Neukieritzsch
Kreis(e): Leipzig
Bundesland: Sachsen
Koordinate WGS84 51° 10′ 54,91″ N: 12° 22′ 28,39″ O 51,18192°N: 12,37455°O
Koordinate UTM 33.316.508,52 m: 5.673.331,81 m
Koordinate Gauss/Krüger 4.526.295,20 m: 5.671.949,05 m
  • Kraftwerk Lippendorf, Schrägluftbild von Südwest

    Kraftwerk Lippendorf, Schrägluftbild von Südwest

    Fotograf/Urheber:
    Ronald Heynowski
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  • Kraftwerk Lippendorf, Schrägluftbild von Westen

    Kraftwerk Lippendorf, Schrägluftbild von Westen

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Das südlich von Leipzig gelegene Kraftwerk Lippendorf war zu seiner Inbetriebnahme im Jahre 2000 das modernste Braunkohlenkraftwerk der Welt und ist der noch einzige fossilgefeuerte Energieerzeuger im Mitteldeutschen Revier. Es ist das dritte Kraftwerk am Standort Böhlen-Lippendorf nach dem 1926 errichteten Industriekraftwerk für die Chemiefabrik Böhlen und dem 1965 in unmittelbarer Nachbarschaft entstandenen, heute als Altwerk bezeichneten Kraftwerk Lippendorf. Nach der politischen Wende 1990 und den damit einhergehenden wirtschaftlichen und umweltrechtlichen Bedingungen war es nicht mehr möglich, die technisch veralteten und stark umweltbelastenden Anlagen weiter zu betreiben. Die von der Vereinigten Energiewerke AG (VEAG) Berlin übernommenen früheren volkseigenen Braunkohlenkraftwerke in Ostdeutschland wurden einem beispiellosen Modernisierungsprogramm unterzogen. Mit der Errichtung des neuen Kraftwerks Lippendorf sollten die beiden benachbarten Braunkohlenkraftwerke der VEAG in Lippendorf (alt) und Thierbach stillgelegt werden. Mit Ausnahme einiger weiter nutzbarer Hallen und Verwaltungsgebäude wurden die beiden Standorte ab 1995 bzw. 2000 zurückgebaut.

Für den Verbleib am Standort Lippendorf und die Investition von etwa 2,3 Milliarden Euro in eine neue Anlage sprachen eine Vielzahl wirtschaftlicher, geografischer, infrastruktureller, ökologischer und technischer Kriterien. Durch die nahegelegenen Abbaufelder des Tagebaus Vereinigtes Schleenhain ist die Versorgung mit Rohbraunkohle gesichert. Die Reststoffe des Kraftwerks wie zum Beispiel kalkhaltige Asche aus dem Entschwefelungsprozess werden zur Böschungsstabilisierung im Teilfeld Peres verwertet und der Baustoffindustrie zugeführt. Das Speicherbecken Witznitz und die Flüsse Eula und Mulde sichern die Rohwasserversorgung für die Kühlung und verfügen über ausreichend Reserven für die heiße Jahreszeit. Zur Finanzierung des Neubauvorhabens entstand ein Konsortium aus VEAG, Badenwerk AG Karlsruhe, Bayernwerk AG München und Energie-Versorgung Schwaben Stuttgart. Nach Voruntersuchungen beauftragte die VEAG 1993 das Unternehmen GEC Alsthom Energie Nürnberg zusammen mit EUT Energie- und Umwelttechnik Radebeul mit der Planung eines Doppelblock-Kraftwerks. Die Planungsvorgaben für das neue Kraftwerk legten einen hohen Umwandlungswirkungsgrad, eine hohe Zuverlässigkeit und einen hohen Umweltstandard fest. Dies bedeutete die Integration einer Reihe von neuen technischen Lösungen und Innovationen in die Kraftwerkskonzeption wie beispielsweise eine Prozessoptimierung durch den Einsatz neuer Werkstoffe bei der Dampferzeugung, eine bessere Ausnutzung des Kühlkreislaufs und eine umfassende Nutzung der Rauchgaswärme, die einen Verzicht auf einen Schornstein ermöglichte.

Im Oktober 1993 begann die europaweite Ausschreibung zur Lieferung der Hauptkomponenten. Im gleichen Jahr startete die Baufeldfreimachung, die mit dem Ausbau der Straßenknoten 1995 die Vorbereitungsmaßnahmen abschlossen. In zwei Stufen wurde im Juni und September 1995 die Baugenehmigung erteilt, so dass im Juli mit dem Erdaushub und dem Bau der Hauptkühlwasserleitung begonnen werden konnte. Am 11. November 1995 legte der damalige sächsisches Ministerpräsident Kurt Biedenkopf den Grundstein. Es folgten die Betonierarbeiten an den Fundamenten der Hauptanlagen und die Errichtung der 163 Meter hohen Treppentürme der beiden Kesselhäuser. Am 13. November 1996 konnte bereits das Richtfest des 175 Meter hohen Kühlturm am Block S gefeiert werden. Die Rohbauarbeiten wurden vom Bauunternehmen Heitkamp aus Herne ausgeführt. Ab dem Frühjahr 1997 standen die Stahlarbeiten im Fokus, in deren Zusammenhang der weltgrößte Montagekran mit einem Ausleger von über 180 Metern Höhe zur Errichtung des 163 Meter hohen Kesselhausgerüsts zum Einsatz kam. Von Frühjahr bis Sommer 1998 erfolgte die Montage der Turbinen und das Verschweißen der Kessel mit anschließender Druckprobe. Nachdem im Mai 1998 die erste Belieferung des Kohlebunkers aus dem Tagebau Vereinigtes Schleenhain erfolgt war, stand einem Probebetrieb und der ersten Netzschaltung von Block S am 18. Juni und von Block R am 15. Dezember 1999 nichts mehr im Wege. Im Beisein von Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde in einem Festakt am 22. Juni 2000 das Kraftwerk Lippendorf in Betrieb genommen.

Nach mehreren Eigentümerwechseln betreibt seit 2016 die Lausitzer Energie Kraftwerke AG (LEAG) federführend die gesamte Anlage des Kraftwerks Lippendorf, wobei der Block S dem baden-württembergischen Energieversorger EnBW gehört und entsprechend Süddeutschland mit Strom versorgt. Ausgelegt für einen Grundlastbetrieb mit über 7.500 Volllaststunden pro Jahr liefern die beiden baugleichen Blöcke mit je 933,6 Megawatt Leistung neben elektrischem Strom auch Fernwärme, insbesondere zur Versorgung von ca. 60 Prozent der Leipziger Haushalte, aber auch von Böhlen und Neukieritzsch. Für den Betrieb verbraucht das Kraftwerk etwa elf Millionen Tonnen Rohbraunkohle pro Jahr, die über eine 14 Kilometer lange Bandanlage aus dem Tagebau Vereinigtes Schleenhain transportiert wird. Das Werk bietet 320 Beschäftigen einen Arbeitsplatz und ist darüber hinaus als Ausbildungsbetrieb und Wirtschaftsfaktor für die Region bedeutend. In unmittelbarer Umgebung des Kraftwerks haben sich Unternehmen der Begleit- und Folgeindustrie angesiedelt, die beispielsweise den aus der Rauchgasentschwefelungsanlage stammenden Gips für die Bauindustrie weiterverarbeiten. Für den Brandschutz der Anlagen kann das Kraftwerk Lippendorf auf die nahe gelegene Betriebsfeuerwehr des Chemiewerks Dow Chemical zurückgreifen, die für Feuerwehrleistungen vertraglich gebunden ist. Die Zukunftsperspektive sieht entsprechend der Kohleausstiegspläne der Bundesregierung eine Stilllegung im Jahre 2035 vor. Deshalb arbeiten die Betreiber bereits an Konzepten für eine neue Kraftwerksgeneration am Standort, die keine Braunkohlebefeuerung mehr vorsieht.

Was die Planung, Konstruktion, Montage und technische Ausstattung der Anlage betrifft, so wurden in vielen Bereichen Neuland betreten und Innovationen umgesetzt. Beispielsweise konnte gegenüber dem Vorgängerkraftwerk Alt-Lippendorf die Umweltbelastung auf ein Minimum reduziert werden: Staub um 99%, Kohlendioxid um 98%, Stickoxide um 48%. Die Rauchgasabführung über die Kühltürme zur Bauzeit mit 175 Metern die weltweit höchsten Naturzug-Nasskühlturme in Stahlbetonbauweise und die wegen der Rauchgasentschweflungsanlage deutlich verringerten Schadstoffmengen machten einen Schornstein nicht mehr notwendig. Zur Inbetriebnahme zählten die beiden Blöcke mit je etwa 930 MW elektrischer Bruttoleistung zu den größten mit Rohbraunkohle befeuerten Anlagen der Welt, auch der Netto-Strom-Wirkungsgrad 42,5% war Weltrekord. Ein technischer Führungsanspruch war ebenso der fünfgehäusigen Kondensatturbine mit einer Nenndrehzahl von 3.000 Umdrehungen pro Minute zuzuschreiben, die weltweit zu den leistungsstärksten Hochtemperatur-Einwellenanlagen bei fossil gefeuerten Kraftwerken zählt. Auch die mit verstellbaren Laufschaufeln ausgerüsteten Saugzugventilatoren mit 10 MW Motorantriebsleistung zählten zu den bisher gebauten leistungsstärksten Kraftwerksventilatoren.

Für die architektonische Gestaltung des Kraftwerks wurde 1993 mit der Münchner Planungsgemeinschaft von Professor Fred Angerer (1925 - 2010) und Gerhard Feuser (1932 - 2022) ein erfahrenes Team von Industriearchitekten beauftragt. Auf die Grundkonzeption des Kraftwerks aufbauend, das aus den in Nord-Süd-Richtung doppelt angeordneten Kraftwerksblöcken mit den beiden nördlich anschließenden Kühltürmen, der im Süden vorgelagerten Gebäudespange für Verwaltung, Personal und Versorgung sowie den Nebenanlagen im östlichen Gelände besteht, erarbeiteten sie aus der städtebaulichen und landschaftlichen Analyse Kriterien für die äußere Gestaltung der Anlagen. So müssen die Kraftwerksanlagen zur Verringerung der Emissionsbelästigung eingehaust werden. Um die großen Bauhöhen in ihrer Erscheinung zu reduzieren, soll das Werk terrassenförmig aufgebaut werden, wobei Bäume und Büsche die erste Ebene einnehmen sollen. Die Farbgestaltung der Gebäudehülle soll unauffällig sein und sich an die durchschnittliche Farbe des Himmels anpassen. Die großen Bauvolumen sollen durch weiche und fließende Konturen in Form von abgerundeten Gebäudeecken, runden Fenstern etc. weniger massiv erscheinen. Das Kraftwerk soll in eine Parklandschaft eingebettet werden. Darüber hinaus konnten sich die Architekten mit ihrer Idee durchsetzen, die beiden großen Dampfkessel als zwei Einzeltürme zu gestalten, um eine kathedralhafte Wirkung zu erzielen. Ein wesentlicher Bestandteil ihres Corporate Designs für das Kraftwerk ist die einheitliche Verkleidung aller Bauwerke mit metallic beschichteten Trapezblechen.

Vom ersten Eindruck der im Südraum Leipzig weithin sichtbaren Landmarke mit den beiden Kühltürmen und der mit den Dampfkesselhäusern fulminant in der Höhe gestaffelten Kraftwerksbauten bis hin zur gruppierten Platzierung und Gestaltung technisch unbedeutender Nebengebäude überzeugt die Architektur der Industrieanlage vom städtebaulichen Maßstab bis hin zum Detail. Dabei gelang es den Architekten funktionale und technische Aspekte in schlüssige Formen zu überführen, Arbeitsabläufe und kurze Wege bestmöglich zu berücksichtigen und wo immer möglich den Blick in den Grünraum zu lenken bzw. die Gebäude mit dem umgebenden Grüngerüst zu verzahnen. Der gut erhaltene gestalterische Zusammenhang der Kraftwerksanlage wurde über die Jahre auch nicht durch bauliche Ergänzungen gestört. Perspektivisch resultiert daraus insgesamt eine städtebauliche, technische, industrie- und ortsgeschichtliche Bedeutung. Darüber hinaus ist das Kraftwerk Lippendorf als Zeugnis des Technologietransfers von West nach Ost in der Geschichte der Energieversorgung Deutschlands bedeutend.

(Nils Schinker, Landesamt für Denkmalpflege Sachsen, 2022)

Datierung:
  • Erbauung 1995–2000

Quellen/Literaturangaben:
  • Angerer, Fred/Feuser, Gerhard: KW Lippendorf Untersuchungsbericht zur Einbindung aller geplanten Kraftwerksanlagen in den umgebenden Landschafts- und Siedlungsraum unter Berücksichtigung städtbaulicher, gestalterischer, funktionaler, technischer landschafts- und umweltbeeinflussender Zusammenhänge, Vorgänge und Bindungen; München 1994.
  • Wagenbreth, Otfried: Die Braunkohlenindustrie in Mitteldeutschland. Geologie, Geschichte, Sachzeugen; Beucha/Markkleeberg 2011, S. 135-141.
  • Christliches Umweltseminar Rötha e. V./Kulturbüro Espenhain (Hgg.): Braunkohle-Energie-Chemie. 80 Jahre Industrieentwicklung am Standort Böhlen-Lippendorf; Südraum Journal 15. Leipzig 2004, S. 85-91.
  • Energie & Management stellt vor: Braunkohlenkraftwerk Lippendorf; In: E&M (1996), S. I-VIII.

Bauherr / Auftraggeber:
  • Bauherr: Vereinigte Energiewerke AG, Berlin (VEAG); Badenwerk AG, Karlsruhe; Bayernwerk AG, München; Energie-Versorgung Schwaben, Stuttgart (GND: 2125058-3)
  • Eigentümer: LEAG; EnBW (GND: 1141617390)
  • Entwurf: Angerer, Fred; Feuser, Gerhard (Architekt, GND: 104597704)
  • Entwurf: GEC Alsthom Energie Nürnberg; Energie- und Umwelttechnik (EUT) Radebeul (Kraftwerksplaner)
  • Ausführung: Fa. Heitkamp, Herne
  • Ausführung: Hamon, Bochum
  • Ausführung: GEA Wärme- und Umwelttechnik, Bochum und Balcke Dürr, Ratingen
  • Ausführung: Babcock Lentjes Kraftwerkstechnik, Oberhausen
  • Ausführung: Lentjes mce Anlagen- und Rohrleitungsbau und Mannesmann Seiffert, Berlin (GND: )
  • Ausführung: ABB Kraftwerke, Mannheim
  • Ausführung: Siemens, Bereich Energieerzeugung (KWU), Karlsruhe
  • Ausführung: ABB Umwelttechnik, Butzbach (GND: )
  • Ausführung: Lentjes Bischoff, Essen
  • Ausführung: Turbo-Lufttechnik (TLT), Zweibrücken
  • Ausführung: R&M Fassadentechnik, Mannheim

BKM-Nummer: 30100136

Kraftwerk Lippendorf

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Lippendorf
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Denkmalpflege
Erfassungsmaßstab
Keine Angabe
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„Kraftwerk Lippendorf”. In: KuLaDig, Kultur.Landschaft.Digital. URL: https://www.kuladig.de/Objektansicht/BKM-30100136 (Abgerufen: 20. März 2025)
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