Nach Diskussion zu alternativen Standorten nördlich der Halde Trages bei den Ortschaften Trages und Mölbis fiel 1964 die Wahl auf das Gelände westlich von Thierbach in der Nähe der B95 und südlich des Veredelungsstandortes Espenhain. Die Rohbraunkohle sollte über Gleisanlagen aus dem Tagebau Espenhain bezogen werden. Für den Bau des neuen Großkraftwerks war die Herrichtung eines etwa 90 Hektar großen Geländes notwendig. Dafür wurden das schon 1940 von der Aktiengesellschaft Sächsische Werke aufgekaufte Vorwerk Crossen in seinen Landwirtschaftsflächen und Gebäuden erheblich verkleinert, das seit 1940 südlich des Heiligen Holzes existierende Aluminiumwerk Dr. Schmidt abgerissen und die Verbindungsstraße von Thierbach zur heutigen B95 im Zuge des Kraftwerksbaus nach Norden verlegt.
Auf Grundlage eines Regierungsabkommens von 1965 zwischen der UdSSR und der DDR wurde für die Projektierungsleistungen der Gesamtanlage das »Staatliche Allunions-Projektierungs-Institut Teploelektroprojekt Moskau« beauftragt. Zum Leistungsumfang gehörten der Generalbebauungsplan, die Planung der unterirdischen Infrastruktur, Straßen und Gleise auf dem Baugelände sowie die Planung und Lieferung der vier 210 MW Blockeinheiten des Großkraftwerks einschließlich der wesentlichen Teile der Nebenanlagen (chemische Wasseraufbereitung, Neutralisationsanlage, Heiz- und Schmieröllager, Kompressorenstation). Die Montage und Inbetriebnahme erfolgte durch Betriebe der DDR unter Leitung einer sowjetischen Chefmontage. Die Volksrepublik Ungarn lieferte und errichtete die Entaschungsanlage, deren Rohrleitungen zu den Absetzbecken der Halde Trages führten. Durch die VR Polen wurden die Kühltürme und der Schornstein projektiert und errichtet. Aus der DDR stammten die Ausrüstungen für die Rohrwasserversorgung (einschließlich der Pumpwerke), die komplette Bekohlungsanlage, Ventilatormühlen, Kratzerbänder, die E-Filter-Anlagen, Blockumspanner, die 6-kV-Schaltanlage und die Heizwasserneutralisation. Die Errichtung der übrigen Bauwerke erfolgte durch Betriebe der DDR. Für die Koordinierung des gesamten Bauvorhabens war der VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau Berlin, Betriebsteil Thierbach (Baustellendirektor: Erhard Eschke, Hauptingenieur: Günter Schmidt) zuständig. Mit dem Bau entstand nicht nur Großkraftwerk neuen Typs, dessen Bruttoleistung bisherige Kraftwerke um über 100% übertraf, es bezeugt auch als erstes Gemeinschaftsprojekt dieser Größenordnung von der Planung bis zur Ausführung die internationale Zusammenarbeit der DDR, der Sowjetunion und der VR Polen und Ungarn.
Die vorgesehene Bauweise mit Betonfertigteilen aus verschiedenen Betonwerken der DDR und einem hohen Vormontagegrad erforderte die Anlage großer Lager- und Montageplätze auf der Baustelle mit zugehörigen Ausrüstungen. Deshalb begann bereits im Oktober 1965 der Aufschluss des Baugeländes und die Errichtung zahlreicher Büro- und Montagebaracken (Technologischen Bereitschaftsunterkünfte) in Verbindung mit dem Bau der Baustellenkantine 1966 für die Arbeiter auf der Baustelle. Dem folgte 1966 der Baubeginn der ersten Kraftwerksgebäude, der 93 Meter hohen hyperbolischen Betonkühltürme (Hersteller: Chlodnie Kominowe, Gliwice) und des 300 Meter hohen Schornsteins (Hersteller: Pieco Budowa, Gliwice) sowie ab April 1967 im Monatsabstand der vier Kraftwerksblöcke. Die Grundsteinlegung wurde am 28.6.1967 gefeiert und nach 26 Monaten Bauzeit konnte am 1.9.1969 der erste Block in Betrieb gehen, die Blöcke 2 und 3 folgten 1970, der vierte Block 1971. Das vom Staatlichen Allunions-Projektierungs-Institut Teploelektroprojekt Moskau geplante Hauptgebäude des Kraftwerks bestand aus Kesselhaus (vier Dampfkessel (Hersteller: Dampfkesselfabrik Podolsk, UdSSR), acht Ventilatormühlen, Frischlüftern und Speisewasserleitungen), dem Verbindungsbauwerk des sogenannten Mittelschwerbaus (vorrangig Speisewasserbehälter und -leitungen sowie zwei Leitständen) und dem nördlich angeschlossenen Maschinenhaus (vier Turbinengeneratoren, Hersteller: Leningrader Maschinenfabrik). Mit der Inbetriebnahme des vierten Blocks 1971 konnte das Kondensationskraftwerk in Dauerbetrieb gehen und erzeugte jährlich Strom von über 5.000 GWh sowie zusätzlich Fernwärme für die Stadt Kitzscher.
Für die etwa 1.850 (1988) Werksangehörigen entstanden im nahe gelegenen Kitzscher mit dem Neubaugebiet Nord ein eigener Stadtteil mit Wohnungen, Versorgungs- und Bildungseinrichtungen. Zur Erholung standen betriebseigene Ferienheime in Bernsbach/Erzgebirge, Großbreitenbach/Thüringen und Balm auf Usedom zur Verfügung. Die Aus- und Weiterbildung erfolgte zunächst für den theoretischen Unterricht im sogenannten Kompaktgebäude und für die praktische Ausbildung in einem Teil der Werkhalle, bevor 1973 der Grundstein für den Neubau der Betriebsberufsschule »Ernst Thälmann« und dem Polytechnischen Zentrum gelegt wurde. Seit 1970 verfügte das Kraftwerk über eine Haupt- und ehrenamtliche Betriebsfeuerwehr, deren Zentrale und Löschfahrzeuge in den Gebäuden der Eingangsgruppe untergebracht waren. Der Wachdienst und die Kampfgruppe des Werkes trainierte in einem eigenen Stützpunkt mit Raumschießanlage und Schießplatz im Freien.
Die Absatzwasser der Kühltürme nutzte die Binnenfischerei Wermsdorf für ihre Fischaufzucht- und Mastanlage. Neben Strom, Wärme und Brennstaub wurden im Werk Konsumgüter wie destilliertes Wasser aus der chemischen Wasseraufbereitung, Champignons, Holzkohle und Hohlblocksteine (versuchsweise auch mit Filterasche) hergestellt.
Nach der politischen Wende und den damit verbundenen wirtschaftlichen Umstrukturierungen und gesetzlichen Umweltauflagen war das Ende der Nutzungszeit des Kraftwerks absehbar. Eine wirtschaftliche Weiterführung der Braunkohlenverstromung im Süden Leipzigs ermöglichte ein Neubauprogramm zweier Kraftwerksblöcke am Standort Lippendorf, die als Ersatz für die Altkraftwerke Lippendorf und Thierbach errichtet wurden. 30 Jahre nach Inbetriebnahme des ersten Thierbacher Kraftwerksblocks wurde das Werk stillgelegt und ein Großteil der Kraftwerksanlagen abgerissen. 2002 wurde der 300 Meter hohe Schornstein gesprengt, 2006 folgten die vier Kühltürme und 2008 Kohlebrecherturm und -bandanlagen. Das markante, 210 Meter lange Hauptgebäude des Kraftwerks mit 61 Meter hoher Mittelhalle, 30 Meter hoher Maschinenhalle und 58 Meter hohem Kesselhaus wurde 2015/2016 gesprengt bzw. abgerissen.
Die heute auf dem Gelände noch existierenden Bestandgebäude des Kraftwerks befinden sich mit Ausnahme der Betriebsgaststätte und eines kleinen Schachtgebäudes im Areal nordwestlich der Klingenbergstraße. Die Hallen und die Bauten der Eingangsgruppe werden gewerblich genutzt, das Verwaltungsgebäude und das Sozialgebäude sowie weitere Nebengebäude stehen leer. Auf dem östlichen, zur Gemeinde Kitzscher gehörenden Gelände, im Bereich des früheren Lager- und Vormontageplatzes und der Gleisanlagen hat sich nach 1990 ein Betonwerk, ein Pilzzuchtbetrieb und eine Biogasanlage angesiedelt.
(Nils Schinker, Landesamt für Denkmalpflege Sachsen, 2021/2022
Datierung:
- Erbauung 1967–1971
Quellen/Literaturangaben:
- Berkner, Andreas/Pro Leipzig e. V. (Hgg.): Auf der Straße der Braunkohle. Exkursionsführer; 3. Aufl., Leipzig 2016, S. 85.
- Nabert, Thomas/Pro Leipzig e.V (Hgg.): Im Pleiße- und Göselland: zwischen Markkleeberg, Rötha und Kitzscher; Leipzig 1999, S. 169-178.
- Kitzscher: 750 Jahre Kitzscher: 1251 - 2001 / [Hrsg.: Stadtverwaltung Kitzscher]; Altenburg 2001, S. 122.
- Wagenbreth, Otfried: Die Braunkohlenindustrie in Mitteldeutschland. Geologie, Geschichte, Sachzeugen; Beucha/Markkleeberg 2011, S. 134-141.
- VEAG Vereinigte Energiewerke AG/Kraftwerk Lippendorf-Thierbach (Hgg.): Kraftwerk Thierbach 1969 bis 1999. 30 Jahre Lieferent von Strom und Wärme; Borna 1999.
- Bilddokumentation Kraftwerk Thierbach; Thierbach 1970.
- Abschlussbericht Großbaustelle Kraftwerk Thierbach; 1972.
- Faltblatt Kraftwerk Thierbach.
Bauherr / Auftraggeber:
- Bauherr: VEB Kraftwerk Thierbach/Elbe (Investträger)
- Entwurf: Teploelektroprojekt Moskau (Generalprojektant; VEB Energieprojektierung Berlin; Ipro I und II (Hauptprojektant)
BKM-Nummer: 30100056