Im Jahre 1918, nach Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens von Compiègne, wurden die deutschen Gebiete rechts und links des Rheins unter den Besatzungsmächten aufgeteilt. Während dieser Aufteilung wurde ein schmaler Landstreifen nicht berücksichtigt, dessen Form an einen Flaschenhals erinnert und in dem die Menschen den „Freistaat Flaschenhals“ ausriefen, der mehrere Jahre bestand.
Zur Entstehung des „Freistaats Flaschenhals“ Am 11. November 1918 unterzeichneten die Vertreter des Deutschen Reichs und der alliierten Siegermächte das Waffenstillstandsabkommen von Compiègne. Abschnitt V dieses Abkommens verlangte sowohl die Besetzung des linken Rheinufers als auch die Errichtung von Brückenköpfen auf der rechten Rheinseite. Sodann wurde um die Städte Mainz, Koblenz und Köln jeweils ein Halbkreis mit einem Radius von 30 Kilometern geschlagen und jene rechtsrheinischen Gebiete, die sich innerhalb dieses Halbkreises befanden, zur besetzten Zone erklärt. Daraufhin marschierten in Köln britische, in Koblenz amerikanische und in Mainz französische Truppen ein. Dass es zwischen den Brückenköpfen Koblenz und Mainz einen Streifen unbesetzten Gebiets gab, das optisch dem Hals einer Weinflasche ähnelte, war den Alliierten sehr wohl bekannt. Der „Flaschenhals“, wie er fortan sowohl von den Deutschen als auch von den Alliierten genannt wurde, entstand, weil die Alliierten nicht mit dem Friedensgesuch der Deutschen gerechnet hatten, das Anfang Oktober 1918 bei US-Präsident Woodrow Wilson eingetroffen war. Damals trat der Oberkommandierende der alliierten Streitkräfte, der französische Marschall Ferdinand Foch, auf den Plan. Binnen kürzester Zeit präsentierte er ein Waffenstillstandsabkommen, das - in Ermangelung eigener schlüssiger Konzepte - von den anderen Alliierten akzeptiert wurde. Selbstverständlich hatten Foch und die übrigen Alliierten zur Kenntnis genommen, dass es zwischen den Brückenköpfen Koblenz und Mainz ein Stück unbesetztes Gebiet gab, sich darum aber nicht weiter gekümmert. Mit Detailfragen konnte und wollte man sich nicht belasten. Damit sollten sich später die Militärbefehlshaber vor Ort befassen.
Der „Flaschenhals“ soll französisch werden Der „Flaschenhals“ erstreckte sich entlang des Rheins vom Bodenthal bei Lorch bis zum Rossstein bei Kaub und in Richtung Taunus bis Laufenselden. Etwa 17.000 Menschen lebten im „Flaschenhals“, der an seiner schmalsten Stelle gerade einmal achthundert Meter breit war. Die französischen Militärbefehlshaber, die sich dann vor Ort mit dem „Flaschenhals“ konfrontiert sahen, zeigten sich entsetzt über dessen Existenz. Sie waren fest davon überzeugt, dass die Deutschen den „Flaschenhals“ nutzen würden, um hier ihre Truppen zu konzentrieren und einen Revanche-Krieg vorzubereiten. Um das zu verhindern, musste dieses Territorium unverzüglich dem französischen Besatzungsgebiet zugeschlagen werden. Die französischen Forderungen nach Anschluss des „Flaschenhalses“ an Frankreichs Besatzungsgebiet lehnten die Flaschenhals-Bewohner kategorisch ab. Daraufhin schickte der Lorcher Bürgermeister Edmund Pnischeck, der später zum Sprecher der „Flaschenhals“-Gemeinden gewählt werden sollte, ein Telegramm an die deutsche Delegation bei der Waffenstillstandskommission im belgischen Spa. Im Namen der Bevölkerung des „Flaschenhalses“ ersuchte er die Delegierten, dafür zu sorgen, dass der „Flaschenhals“ Teil des freien Deutschlands bliebe. Bei der deutschen Delegation stießen die Wünsche der Menschen im „Flaschenhals“ auf Zustimmung. Daraufhin begannen die französischen Schikanen. Unter anderem sorgten die Franzosen dafür, dass die traditionell gut funktionierende preußische Verwaltung ihre Aufgaben im „Flaschenhals“ nicht mehr erfüllen konnte. Auf diese Weise wollte man chaotische Zustände herbeiführen, so dass sich die Menschen im „Flaschenhals“ am Ende „freiwillig“ bereit erklärten, in die französische Besatzungszone „aufgenommen“ zu werden. Deshalb ließen die Franzosen die Kommunikationswege unterbrechen. Nichts funktionierte mehr: Kein Telefon, kein Telegraf, selbst die Postverbindung war gekappt worden. Auch Züge, Automobile und Pferdefuhrwerke durften nicht mehr über die Grenze.
Deutsche Hilfsmaßnahmen: Die Einsetzung eines kommissarischen Landrats für den „Flaschenhals“ Daraufhin wurde von deutscher Seite beschlossen, einen kommissarischen Landrat für den „Flaschenhals“ einzusetzen, wodurch der „Flaschenhals“ - zumindest vorübergehend - zu einer eigenen Verwaltungseinheit wurde. Mit dem Amt des „kommissarischen Landrats“ des „Flaschenhalses“ betraute das Oberpräsidium in Kassel den Landrat des Landkreises Limburg, Dr. Robert Koecher Büchting, der diese Funktion vom 3. Januar 1919 bis Juni 1919 innehaben sollte. Danach übernahm Büchtings Nachfolger im Amt des Limburger Landrats, Karl Schellen, diesen Posten. Schellen amtierte bis zum 29. Juni 1920 als „kommissarischer Landrat“ des „Flaschenhalses“. Die Tatsache, dass man infolge der französischen Besatzungspolitik unfreiwillig zu einer eigenen Verwaltungseinheit geworden war, beflügelte die Menschen wahrscheinlich dazu, ihre Region als „Freistaat“ zu bezeichnen. Um einen Freistaat im staatsrechtlichen Sinne handelte es sich beim „Flaschenhals“ allerdings nicht, denn das Gebiet war nach wie vor Teil des Landes Preußen und damit Bestandteil des Deutschen Reichs.
Schwierige Versorgungslage Problematisch für die „Flaschenhals“-Bewohner war sowohl die Versorgung mit Medikamenten, Waren des täglichen Bedarfs als auch mit Lebensmitteln. Nicht alles konnte selbst produzieren werden. Zwar bestand die Möglichkeit, sich alles Notwendige im unbesetzten Teil des Reichs zu besorgen, aber die dort beschafften Waren mussten dann auch an ihre Empfänger geliefert werden. Und hier begannen die Schwierigkeiten. Die nächste größere Stadt im unbesetzten Deutschland, die als Warenumschlagplatz dienen konnte, war Limburg an der Lahn. Das Problem bestand nun darin, die dort befindlichen Waren an ihren Bestimmungsort zu bringen, denn es gab keine direkte Straßenverbindung zwischen Limburg und den Rheinstädten. Händler, Lieferanten, Produzenten und selbst die Post mussten daher auf archaisch anmutende Beförderungsmittel zurückgreifen, nämlich das Pferd, den Pferdewagen, den von Hand gezogenen Karren oder den auf die Schultern geschnallten Rucksack, um die Versorgungslage im „Flaschenhals“ aufrechtzuerhalten. Zumeist über Trampelpfade, manchmal auch querfeldein, über selbstgebaute Knüppeldämme, oftmals schlammige Feld- und Waldwege mussten sich die Menschen quälen, um die benötigten Waren von Limburg in die Ortschaften des „Flaschenhalses“ oder aus dem „Flaschenhals“ nach Limburg zu transportieren. Schmuggler trugen das ihre dazu bei, das Leben im „Flaschenhals“ zu erleichtern. Über verschlungene Pfade brachten sie Vieh, Fleisch, Mehl, Getreide oder Wein über die Grenze. Mit Strafen mussten sie, selbst wenn sie ertappt wurden, nicht rechnen, weil auch die Gerichtsbarkeit im „Flaschenhals“ dem Chaos zum Opfer gefallen war. Konkret hieß das: Im „Flaschenhals“ gab es weder Richter noch Gerichte und damit auch keine Verfahren und keine Verurteilungen.
Rückkehr zur Normalität Spätestens im Frühjahr/Frühsommer 1920 zeigten sich die Alliierten - Frankreich eingeschlossen - davon überzeugt, dass das Reich keinen neuen Krieg plante. Daher war man gewillt, sich mit Deutschland zu arrangieren, sofern es seinen Verpflichtungen, die ihm durch den am 28. Juni 1919 unterzeichneten und am 10. Januar 1920 in Kraft getretenen Versailler Vertrag auferlegt worden waren, ordnungsgemäß nachkam. Für den „Flaschenhals“ bedeutete das, dass die bis dahin strengen Regelungen hinsichtlich des Verkehrs zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiet normalisiert wurden. Fortan konnten Personen und Waren wieder problemlos auf dem Bahnweg oder mit Kraftfahrzeugen transportiert werden. Schmuggeleien im größeren Stil erübrigten sich daher. Im „Flaschenhals“ kehrte Normalität ein. Telefon, Telegrafie und Postzustellung funktionierten wieder wie gewohnt, und niemand musste mehr nach Limburg laufen, mit Fuhrwerken fahren oder sich mit dem Ziehen von Karren abmühen, wenn er Waren von oder nach dem „Flaschenhals“ liefern wollte. Auch die improvisierten Verwaltungsstrukturen wurden zum 1. Juli 1920 aufgehoben. Daraufhin stellte der kommissarische Landrat seine Tätigkeit ein.
Im Prinzip endete damit die Existenz des „Flaschenhalses“ als „Freistaat“, also als Gebilde, das aufgrund der Besatzungsmaßnahmen gezwungen war, seinen Erhalt - nämlich seine Freiheit von jeglicher Besatzung - mit ungewöhnlichen politischen und administrativen Maßnahmen zu gewährleisten. Trotzdem bestand der „Flaschenhals“, zumindest als ein auf der Landkarte zu bestaunendes Kuriosum, offiziell weiter, denn erst am 30. Juni 1930 endete jegliche Besetzung des Deutschen Reichs. Ab diesem Tag, der im ganzen Reich gefeiert wurde, war Deutschland sowohl frei von Besatzungsmächten als auch von Besatzungszonen, und der „Flaschenhals“ verschwand von der Landkarte.
Erläuterung der Objektgeometrie Die Objektgeometrie gibt nur symbolisch und nicht katastergetreu einen Eindruck der Fläche des einstigen „Freistaats Flaschenhals“. Die heutigen Gemeindegrenzen entsprechen nicht unbedingt den historischen Gemeindegrenzen. Daher werden unter „Gemeinden“ auch Orte mit aufgeführt, die nicht zum damaligen Freistaat gehörten. Damals Teil des „Freistaats“ waren: Lorch, Kaub, Lorchhausen, Sauerthal, Ransel, Wollmerschied, Welterod, Zorn, Strüth, Egenroth und Laufenselden, Reckenroth, Eisighofen und weitere (siehe Kartenwerk in KuLaDig sowie weitere Abbildungen zur Fläche in der Mediengalerie).
Freistaat-Flaschenhals-Initiative Am 2. September 1994 moderierte der Kauber Winzer Peter-Josef Bahles zur Eröffnung des Kauber Winzerfestes eine musikalische Weinprobe unter dem Motto „Freistaat Flaschenhals“. Auf diese Weise wurde die vergessene Zeit, in der Kaub ein Teil des Freistaates Flaschenhals war, wieder in Erinnerung gebracht. Gilbert Sulek hatte die Idee, diese historische Besonderheit auch touristisch zu nutzen. Somit wurde die „Freistaat-Flaschenhals-Initiative“ ins Leben gerufen. Eine Satzung wurde beschlossen, Qualitätskriterien für die sogenannten „Freistaatweine“ wurden festgelegt. In Erinnerung an das Notgeld der 1920er Jahre wurde der „Freistaat-Taler“ geprägt (Wert 30,- DM, später 15,- EUR). Mit diesem Taler konnte man in den Mitgliedsbetrieben einkaufen. Am 26.10.2000 wurde im Blüchermuseum der „Freistaat-Flaschenhals-Pass“ vorgestellt. Mit dem Pass war ein 4-Gänge-Menü verbunden, wobei jeder Gang in einem anderen Lokal serviert wurde. Über 6.000 Pässe wurden bereits verkauft. Zu den jeweiligen Jubiläumsjahren fanden stets besondere Veranstaltungen statt.
(Stephanie Zibell, Wiesbaden, 2023; Mit einem Zusatz zur Freistaat-Flaschenhals-Initiative von Peter-Josef Bahles, Kaub, 2024)
Der Freistaat Flaschenhals. Das groteskeste Gebilde der Besatzungszeit. In: Frankfurter Nachrichten (Nachdruck in: Heinz Gorrenz, Die Franzosenzeit in Nassau und in Frankfurt am Main 1918-1930, 4. erw. Auflage, Frankfurt a. M. 1930), o. O.
Stötzer, Thorsten (2004)
Landkreis St. Goarshausen in der französischen Besatzungszeit 1918-1929. Koblenz.
Struppmann, Robert (2000)
Der "Freistaat Flaschenhals". Ein Kuriosum nach dem Ersten Weltkrieg. In: Jahrbuch des Rheingau-Taunus-Kreises 2000, S. 83-86. Bad Schwalbach.
Zibell, Stephanie (2019)
Der "Freistaat Flaschenhals". In: Marco Wiersch / Bernd Kissel (Hrsg.): Freistaat Flaschenhals. Graphic Novel, S. 196-206. Hamburg.
Zibell, Stephanie (2014)
Das "Flaschenhals"-Territorium. In: Rheingeschichten - Geschichte und Geschichten aus dem Rheingau und dem Mittelrheintal, S. 100-127. Frankfurt a. M..
Zibell, Stephanie (2012)
Der Friede von Versailles und der Mittelrhein. Zur Entstehung des "Freistaats Flaschenhals" im Oktober/November 1918. In: Nassauische Annalen. Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung; Bd. 123, S. 585-602. Wiesbaden.
Zibell, Stephanie; Bahles, Peter Josef (2009)
Der Freistaat Flaschenhals. Historisches und Histörchen aus der Zeit zwischen 1918 und 1923. Frankfurt a. M..
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