„Mir weeden immer mieh, hoffentlich immer mieh, denn nur su hahlen mir se op!“ („Wir werden immer mehr, hoffentlich immer mehr, denn nur so halten wir sie auf!“, Stollwerck-Leed, BAP 1980)
Nachdem die Firma hier mehr als 100 Jahre lang Schokoloade und andere Süßwaren produziert hatte, zog die Stollwerck AG im Dezember 1975 aus der Kölner Südstadt ins rechtsrheinische Westhoven um. Der Aufgabe der traditionsreichen Schokoladenproduktion folgten lange Auseinandersetzungen über die Neugestaltung des Severinsviertels, die Jahre später in der so genannten „Stollwerckbesetzung“ gipfelten. Die am 20. Mai 1980 begonnene und 49 Tage bis zum 6. Juli 1980 andauernde Hausbesetzung war mit bis zu 600 Besetzern die größte in der Geschichte der Stadt Köln.
Vorgeschichte: Von der Schokoladenfabrik zum autonomen Kulturzentrum In der Kölner Südstadt hatte sich seit den 1970er-Jahren eine links-alternative Künstlerszene entwickelt, die sich als „Autonomes Kulturzentrum Stollwerk“ auch im rund 55.000 Quadratmeter großen Areal der früheren Schokoladenfabrik angesiedelt hatte. Zeitweise wurden Teile des Geländes als Quartier für den Kölner Circus Roncalli vermietet. Der alte Annosaal des Stollwerck-Komplexes wurde als Spielstätte vom Kölner Schauspiel und für Konzerte genutzt. Die Kölsch-Rock-Formation BAP stellte hier am 28. November 1979 ihre erste Platte „... rockt andere kölsche Leeder“ vor.
Die Stadt plante bereits ab 1978 eine Um- und Neugestaltung des zu diesem Zweck als Sanierungsgebiet ausgewiesenen Severinsviertels. Die Entwürfe sahen den fast vollständigen Abriss der Fabrikgebäude und die Beseitigung des „Betonklotzes“ Stollwerck vor, um dort „auf traumhaftem Gelände“ (so der damalige Oberstadtdirektor) Wohnraum zu schaffen. Die bereits 1971 gegründete „Bürgerinitiative südliche Altstadt“ (BISA) und eine Arbeitsgruppe „Wohnen im Stollwerck“ favorisierte hingegen den Umbau der bestehenden Fabrik- und Industriebauten zu preisgünstigen Wohn-, Arbeits- und Kulturräumen, die zudem selbstverwaltet betrieben werden sollten. Um die Machbarkeit ihres Konzepts zum Umbau der Industrieanlagen konstruktiv belegen zu können, präsentierte die BISA sogar eine Musterwohnung in den früheren Fabrik. Die Auseinandersetzungen zwischen Stadt, Verwaltung, Politik, Investoren, Architekten und Kulturszene spitzten sich im April 1980 zu. Der Tod eines 13-jährigen Jungen, der während eines „Letzte-Hilfe-Festes“ am 27. April in einen ungesicherten Aufzugschacht fiel und nicht zuletzt auch die anstehenden NRW-Landtagswahlen am 11. Mai führten nochmals zu einer Verhärtung der Fronten in dem mittlerweile über die Kölner Stadtgrenzen hinaus beachteten Streit.
Die Besetzung Als der Stadtentwicklungsausschuss am 20. Mai 1980 gegen alle Proteste den Teilabriss der Fabrik beschloss und das von der Stadt favorisierte Sanierungsmodell bestätigte, zogen die von der Sitzung ausgesperrten Demonstranten vom Rathaus zum Fabrikgelände und besetzten es kurzerhand. Unter dem Motto „Macht Stollwerck zum Bollwerk“ richtete man sich auf einen längeren Verbleib ein. „In dieser Zeit besuchten zahlreiche Kölner:innen das Gelände, das einen Anziehungspunkt für eine bunte Mischung aus Punks, Künstler:innen, Autonomen und anderen subkulturellen Gruppen bildete. Die Besetzer:innen entwarfen Szenarien für die Zukunft des Geländes, es gab Kunstausstellungen und Theateraufführungen. Gleichzeitig war die Zeit der Besetzung auch von Konflikten zwischen den Bewohner:innen geprägt.“ (greven-archiv-digital.de)
Von der Besetzung überrumpelt, drohten Politik und Verwaltung mit Rechtsmitteln und Strafanzeigen, kündigten noch bestehende Mietverträge und ließen Strom und Wasser abstellen. Auf Betreiben der in Köln regierenden Sozialdemokraten wurde schließlich der stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, Hans-Jürgen Wischnewski (1922-2005), als Vermittler eingesetzt. „Ben Wisch“, dessen Verhandlungsgeschick 1977 noch maßgeblich zur Befreiung der von Terroristen entführten Lufthansa-Maschine Landshut in Mogadischu beigetragen hatte, konnte zwar zur Beruhigung der angespannten Situation vor Ort beitragen, aber keine Einigung herbeiführen. Unter den Besetzern gab es einerseits das solidarische „Gefühl eines gemeinsamen Traumes von alternativen Lebens- und Wohnmodellen sowie einen kollektiven Widerstandsgeist“ (zitiert nach de.wikipedia.org), während es gleichzeitig aber intern auch zu Konflikten und Spannungen sowie einer zunehmend aggressiven Atmosphäre aufgrund der chaotischen Situation kam.
Nach wochenlang Verhandlungen beider Seiten konnte schließlich eine Übereinkunft erzielt werden. Die Veröffentlichung einer gemeinsamen Erklärung bedeutete das Ende der Besetzung am 6. Juli 1980. Zuletzt hielten sich noch rund 100 Personen dauerhaft auf dem Gelände auf.
Folgen und weitere Entwicklung Im Gegenzug zur Räumung des besetzten Geländes sah das Verhandlungsergebnis ein in der Folge deutlich transparenteres Planungsverfahren vor, das auch offen für alternative Nutzungsformen war. Ferner wurden Strafanzeigen eingestellt und auf zivilrechtliche Ansprüche gegen die Besetzer verzichtet (mit Ausnahme schwerer vorsätzlicher Zerstörungen).
Obgleich im Stollwerck anschließend Wohnraum für Jugendliche und auch Räumlichkeiten für ein autonomes Kulturzentrum bereitgestellt wurde, konnte das Hauptziel der Teilnehmer an der Besetzung – ein umfassender selbstverwalteter Stollwerck-Umbau in preiswerten Wohnraum – nicht erreicht werden. 18 Monate nach der Besetzung wurde der Ost-West-Trakt der Fabrik samt Musterwohnung gesprengt. Vom vormaligen Stollwerckkomplex verblieben die Maschinenhalle, der Räderraum, der Kachelsaal und der Annosaal. Weite Teile der ehemaligen Fabrikanlage konnten jedoch noch jahrelang von regionalen und überregionalen Künstlern als „Kulturfabrik Stollwerck“ als Atelier, Galerie, Proberaum und Bühne genutzt werden. Erst im Frühjahr 1987 stand der Abriss unausweichlich bevor. „Nachdem die Fabrik sieben Jahre lang einen Brennpunkt der Kölner Kunstszene bildete, feierte man im April 1987 in den Ruinen der im Abriss befindlichen Fabrik das Abschiedsfest ‚Finale Fanale‘.“ (de.wikipedia.org) Ein Teil der Künstlerszene bezog nachfolgend das Speicherhaus Rhenania als nunmehrige Residenz „Kunsthaus Rhenania e.V.“.
Die meisten Gebäude der früheren Stollwerckfabrik wurden ab Frühjahr 1987 abgerissen. Die Sanierung des Geländes mit der Errichtung von Mitwohnungen und Eigenheimen wurde im Jahr 1991 beendet (Wilhelm 2008). Die in den 1970ern begonnene Kulturtradition „im Stollwerck“ wird heute im unmittelbar benachbarten Bürgerhaus Stollwerck fortgeführt. Dessen Programme aus Kabarett, Comedy, Konzert, Theater und Karneval haben allerdings nur noch bedingt etwas mit der hier bis in die 1980er-Jahre verwurzelten provokanten und teils auch radikalen links-alternativen Gegenkultur zu tun.
Paralellen bei Sprengel-Schokolade in Hannover Etwa zeitgleich zu den Ereignissen bei Stollwerck kam es auch auf dem ehemaligen Fabrikgelände der Schokoladenfabrik Sprengel in Hannover gewalttätigen Hausbesetzungen und Krawallen. Diese machten ebenfalls bundesweit Schlagzeilen und standen offenbar mit den Vorgängen in der Kölner Südstadt in Zusammenhang. Das Werk in der Hannoveraner Nordstadt war 1895 von dem 1851 in Hamburg begründeten und seit 1853 in Hannover ansässigen „Dampf-Schokolade-, Bonbon- und Conditoreiwarenfabrik B. Sprengel & Co“ bezogen worden. Im Zuge der Expansion des Kölner Schokoladenimperiums unter Hans Imhoff hatte Stollwerck 1979 Sprengel übernommen und die örtlichen Produktionsanlagen nur wenig später stillgelegt. Das Industrieareal wurde 1980 an einen Hamburger Immobilienspekulanten verkauft, der wiederum 1985 insolvent ging. Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Nutzung des brach liegenden, rund 16.000 Quadratmeter großen Areals kam es 1981, 1983 und 1987 zu größeren Hausbesetzungsaktionen in der niedersächsischen Landeshauptstadt, während derer sich das Sprengelgelände zu einem Zentrum des politischen Aufstands entwickelte. Der sich auch hier über Jahre hinziehende Streit der Besetzenden mit der Politik, Verwaltung und Behörden „fand vorläufig ein rabiates Ende mit den Chaostagen vom 4. bis 6. August 1995 in der Nordstadt, in deren Verlauf es zu Straßenschlachten zwischen mehreren Tausend Punks und Jugendlichen nicht nur aus Hannover und Polizisten sowie Bundesgrenzschutzbeamten aus zehn Bundesländern kam.“ (www.hannover.de) Auch in Hannover entstand in der Folge ein linksalternatives Wohnviertel mit einer umfassenden Infrastruktur – u.a. mit Ateliers, Werkstätten, Kneipen, Veranstaltungsräumen, Treffpunkten, Betreuungseinrichtungen und Beratungsstellen –, die zum Großteil aus Initiativen zur Zeit der Hausbesetzung hervorgegangen sind (www.kulturzentrum-faust.de), aber nicht zuletzt auch durch Sanierungen über Städtebauförderungsmaßnahmen und -mittel (1984-2007) entstanden.
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