Das ehemalige Kernkraftwerk Kalkar ging aus sicherheitstechnischen und politischen Bedenken nie ans Netz, das endgültige Aus für die 1985 fertiggestellte Anlage wurde 1991 beschlossen. Der Schnelle Brüter ist eine der größten Investitionsruinen Deutschlands. Seit 1996 wird hier der Freizeit- und Vergnügungspark „Wunderland Kalkar“ (bis Anfang 2005 „Kernwasser Wunderland“) betrieben.
Das Kernkraftwerk Kalkar: Schneller Brüter-Technik, Bau und Kosten Das ehemalige Kernkraftwerk Kalkar wurde ab 1969/70 als Typ SNR-300 (für „Schneller Natriumgekühlter Reaktor“) konzipiert und entwickelt. Da die Uranvorräte der damaligen Bundesrepublik begrenzt waren (in der DDR hingegen befand sich das drittgrößte Abbaugebiet der Welt), erhofften sich die Befürworter von der neuartigen Brutreaktor-Technik eine deutlich effizientere Ausnutzung der Vorräte. Das seinerzeit modernste Atomkraftwerk der Welt sollte quasi als „Perpetuum mobile des Industriezeitalters“ (DER SPIEGEL 2011) funktionieren, in dem es mehr Plutonium-Brennstoff herstellt, als es gleichzeitig verbraucht. Strategisches Ziel war die mittelfristige Unabhängigkeit Deutschlands von Energieimporten.
Der Baubeginn durch die Herstellerfirma Interatom GmbH erfolgte am 23. April 1973, Eigentümer und Betreiber der Anlage war die Schneller Brüter Kernkraftwerksgesellschaft mbH mit Sitz in Kalkar. Wurde zu Beginn der Planungen noch ein Festpreis von 500 Millionen Deutschen Mark verhandelt, stiegen die Kosten bis 1972 bereits auf 1,7 Milliarden DM und bis zur endgültigen Fertigstellung 1985 auf etwa 7 Milliarden DM (ca. 3,6 Milliarden Euro). Ab diesem Zeitpunkt fielen für den Betrieb des grundsätzlich einsatzbereiten Reaktors jährliche Betriebskosten von 105 Millionen DM (über 53 Millionen Euro) an. Der fertiggestellte Reaktor war für eine Bruttoleistung von 327 MW (Megawatt = 1 Million Watt) ausgelegt. Ein weiterer Reaktor, der als SNR 2 projektiert war und dessen Bau nach der Inbetriebnahme des ersten Reaktors erfolgen sollte, sollte als größter Kernreaktor der Welt eine Bruttoleistung von 2.000 MW haben. Die Fläche der Kraftwerksanlage beträgt annähernd 30 Hektar, die höchsten Teile der Anlage sind 93 Meter hoch.
Kritik und Widerstand: Nichtinbetriebnahme und Ende des Kraftwerks Dass das Kernkraftwerk Kalkar letztlich nie ans Netz ging, hat mehrere Ursachen. Maßgeblich wirkten sich dabei vor allem die zunehmenden Sicherheitsbedenken immer größerer Teile der Bevölkerung gegenüber der Atomkraft aus, die sich immer mehr auch auf die politischen Entscheidungen auswirkten. Kalkar betreffend gab es darüber hinaus einen deutlichen Dissens zwischen der eher kritischen nordrhein-westfälischen Landesregierung und der befürwortenden Bundesregierung.
Bereits für die frühen 1970er-Jahre ist eine allmählich wachsende Kritik am Bau und Betrieb von Kernkraftwerken zu konstatieren – und das nicht nur in Kalkar, wo Gegner des Projekts schon früh eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben. Die Kritik an der Kostenentwicklung und (energie-)wirtschaftliche Gründe traten dabei zunehmend gegenüber Sicherheitsbedenken hinsichtlich der diffizileren Technik des Schnellen Brüters sowie einer auch in breiteren Teilen der Gesellschaft immer mehr verwurzelten Abkehrhaltung gegenüber der Atomkraft zurück. Bereits 1977 versammelten sich bei einer ersten Großdemonstration in Kalkar 40.000 Gegner des Projekts. Am 28. März 1979 havarierte bei Harrisburg (USA) das Kernkraftwerk Three Mile Island mit einer partiellen Schmelze des Reaktorkerns und dem Austreten von radioaktivem Gas. Dieser Unfall sowie zahlreiche weitere „kleinere“ Störfälle in kerntechnischen Anlagen in den Folgejahren (noch lange vor dem Super-GAU von Tschernobyl) ließ weiteres Wasser auf die Mühlen der in diesen Jahren aufstrebenden Anti-Atomkraft-Bewegung laufen. Neben einer zunehmenden Radikalisierung des antinuklearen Protests – zahlreiche Großdemonstrationen führten teils zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei – ist hier auch die Gründung der Partei „Die Grünen“ 1979/80 anzuführen, die das Thema Kernkraft in die politischen Institutionen trug. Vor Ort in Kalkar wurde Josef Maas (1931-2008) als „Bauer Maas“ oder auch „Held von Kalkar“ zur Symbolfigur des Widerstands gegen den Schnellen Brüter.
Nicht zuletzt auch durch die immer erfolgreichere Anti-Atomkraft-Bewegung und die Stimmung in der Bevölkerung beeinflusst, schwenkte die sozial-liberale Koalitionsregierung Nordrhein-Westfalens unter Heinz Kühn (1912-1992, Ministerpräsident 1966-1978) bereits Ende der 1970er Jahre auf einen Anti-Kernkraft-Kurs um. Unter Kühns Nachfolger Johannes Rau (1931-2006, Ministerpräsident 1978-1998) stellte sich das Land dann in Sachen Schneller Brüter offen gegen den Willen der damaligen christlich-liberalen Bonner Bundesregierung. Über den zuständigen Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Friedhelm Farthmann (*1930, Minister 1975-1985), verweigerte das Land die Genehmigung zur Inbetriebnahme aufgrund nicht-vertretbarer Risiken durch die Einbringung von Brennelementen in den Reaktorkern (laut Wikipedia habe das Landeskabinett vor der Landtagswahl 1985 sogar inoffiziell entschieden, den Betrieb des Brutreaktors nie zu genehmigen). Im nachfolgenden politischen Ringen um das Kernkraftwerk Kalkar hielten sich die Betreiber erkennbar zurück – das Interesse schwand aufgrund des langsamer als erwartet ansteigenden Energieverbrauchs und dem Umfang der deutschen Uranvorräte, der doch größer war als erwartet. Die verheerende Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in der Ukraine (seinerzeit UdSSR) am 26. April 1986 war auch für Kalkar ein entscheidender Wendepunkt. Nun schlug die Stimmung endgültig gegen den Schnellen Brüter um, zumal eine Inbetriebnahme durch die radioaktive Kontamination der Anlage einen Rückbau und eine Weiternutzung des Gebäudes ausschließen würde – Probleme, die sich heute am nach nur 30 Monaten Laufzeit (März 1986 - September 1988) stillgelegten Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich in Rheinland-Pfalz aufzeigen. Der langjährige Bundesminister für Forschung und Technologie Heinz Riesenhuber (*1935, Minister 1982-1993) verfügte am 21. März 1991 schließlich das endgültige Aus für das Kraftwerk.
Weitere Geschichte und Nutzung der Investitionsruine als Freizeitpark Das Kalkarer Kraftwerk war durch die immensen Baukosten und die später anstehenden Bereithaltungskosten für einen möglichen Betrieb zu einer der größten Investitionsruinen Deutschlands geworden. Aus wirtschaftlichen Gründen stand ein Abriss – hierfür wurden 75 Millionen Euro Kosten veranschlagt – nicht zur Debatte. Schließlich wurden einzelne Anlagenteile, Maschinen und Geräte verkauft (bis 2011 war indes erst etwa ein Drittel des Reaktors um- bzw. zurückgebaut). Der nie benutzte erste Reaktorkern wurde bis 2005 im hessischen Hanau zwischengelagert, bevor das Plutonium in der französischen Anlage La Hague zu herkömmlichen Kernkraftwerks-Brennelementen wiederaufbereitet.
Die Anlagen und Gebäude wurden 1995 vom niederländischen Schrotthändler Hennie van der Most (*1950) gekauft. Angeblich habe der Kaufpreis für den Investor lediglich 2,5 Millionen Euro betragen. Nachdem die Außerbetriebsetzung des SNR-300 im Jahr 1996 beendet war, begann van der Most auf dem Areal mit dem Aufbau und Betrieb des heutigen Freizeit- und Vergnügungsparks „Wunderland Kalkar“ (bis Anfang 2005 „Kernwasser Wunderland“). In einem Teil der Anlage wurde ein Kongresszentrum mit Hotel und Tagungsräumen eingerichtet.
Ironie der Geschichte: Aufgrund des hohen Energieverbrauchs der Freizeitanlage überlegt man mittlerweile, dort kostengünstigen eigenen Strom zu produzieren. Gedacht ist an die Errichtung eines Windrades oder einer Biogasanlage...
Handbuch der Historischen Stätten Nordrhein-Westfalen. (HbHistSt NRW, Kröners Taschenausgabe, Band 273.) S. 528, Stuttgart (3. völlig neu bearbeitete Auflage).
Seidel, Peter (2012)
Gescheiterte Pläne, geplatzte Investitionen. Langsam verfallende Bauten sind Zeugen öffentlicher wie privater Geldverschwendung. In: Kölner Stadt-Anzeiger vom 23. Juni 2012, S. 36. Köln.
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