Der Gebäudeteil mit den Räumlichkeiten für das Personal, den technischen Einrichtungen für die Bedienung der Weichen, Signale und der Blockeinrichtungen ist wie ein Reiter ausgebildet, der mehrere Gleise überbrückt. Der Überbau stützt sich auf der Südseite auf ein turmartig ausgeführtes Treppenhaus und auf der gegenüberliegenden Seite auf eine einfache Pfeilerkonstruktion ab. Weitere Reiterstellwerke sind in Rheinland-Pfalz in Bingen und Koblenz erhalten geblieben. (s. Abbildung „Gebäudeansicht Stellwerk Nf mit S-Bahn am 30.05.2014“ in der Mediengalerie)
Besonderes Technikdenkmal
Das Stellwerk in Neustadt stellt dahingehend eine Besonderheit dar, weil es sich vom Aufbau des eigentlichen Gebäudes um eine Konstruktion aus Stahlbeton handelt und damit einen besonderen Bezug zu Neustadt hat. Die 1875 von Conrad Freytag in Neustadt an der Haardt mit begründete und ab 1900 in Frankfurt am Main ansässige Firma Wayss & Freytag, war maßgeblich an der Entwicklung des Stahlbetonbaus beteiligt. Erste Zeugnisse dieser Technik entstanden in Neustadt, so z.B. auch die Überführung über die Bahnstrecke in der Schillerstraße westlich des Hauptbahnhofs, volkstümlich als „Zwockelsbrücke“ bezeichnet.
Die Firma entwickelte sich aus ihrem Ursprung heraus zu einem weltweit tätigen Unternehmen und war ab 1950 an der Entwicklung der Spannbetonschwelle für den Eisenbahnbau beteiligt. Erbaut wurde das Stellwerksgebäude in den Jahren 1926/27 als Nachfolger der ersten Stellwerke, die aus der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts stammten.
Eine Postkarte (s. Abbildung Postkarte mit „Stellwerk von 1900“ in der Mediengalerie) aus der Zeit um 1900 zeigt den Blick von der Schillerstraße auf den östlich gelegenen Teil des Hauptbahnhofs und Winzingen. Das Gebäude neben den Gleisen an der Eisenbahnüberführung über die Landauer Straße war der Vorläufer des Reiterstellwerks. An seine Stelle trat später ein Rangierstellwerk
Nach dem Entwurf von Reichsbahnrat Grunwald wurde das Reiterstellwerk im Heimatstil erbaut. Ein langer Baukörper mit Treppenhaus und Eingang sowie eine mächtige Betonstütze bilden die Basis, über die sich der L-förmige Oberbau spannt. Dieser ist mit senkrechten Brettern verkleidet, unterbrochen von zahlreichen Fenstern. Insgesamt überspannt das Bauwerk zwei Gleise, über die nach wie vor tagtäglich Züge fahren. Das Dach ist in Form eines Ziegelwalmdachs gestaltet, auf dem sich ein mit Schiefer verkleideter Uhrendachreiter befindet. Das Gebäude prägt die Silhoutte Neustadts (Huyer, S. 84) und ist nicht nur bei vielen Bahnreisenende, die darunter durchfahren, beliebt.
Technik
Zum Einbau kam Stellwerks- und Signaltechnik der Eisenbahnsignalbauanstalten Max Jüdel, Stahmer, in Bruchsal. Die Firma war aus der Maschinenfabrik Schnabel & Henning (gegr. 01.06.1869) hervorgegangen und rüstete weltweit Eisenbahnen aus, wie z.B. die Gotthardbahn in der Schweiz und die Bagdadbahn von Istanbul nach Bagdad. Die Pfälzischen Eisenbahnen waren seit 1872 Kunde und bezogen bis 1906 insgesamt 553 Stellwerke aus Bruchsal. (Ernst Habermann)
In Neustadt kam ein Kraftstellwerk der Bauart „Bruchsal M“ zur Ausführung. Die Bezeichnung „Kraftstellwerk“ besagt, dass das Umstellen der Weichen und Signale mit elektrischer Kraft durch Elektromotoren erfolgt. Bereits im Jahre 1938 wurde diese Stellwerkstechnik durch eine elektromechanische Anlage der Bauart E43 ersetzt; dabei wurden neben den Signalen auch die Weichen und Gleissperren elektrisch gestellt. (Walter Jonas, Marcus Klein) (s. Abbildungen „Innenraum des Reiterstellwerks Neustadt an der Weinstraße“, „Blick vom Reiterstellwerk in Richtung Hauptbahnhof“, „Blick vom Reiterstellwerk Richtung Hauptbahnhof Neustadt an der Weinstraße (2002)“ und „Blick von Landau kommend auf das Reiterstellwerk Neustadt an der Weinstraße“)
Weitere Stellwerke
Neben dem Reiterstellwerk gab es innerhalb des Neustadter Hauptbahnhofs weitere Stellwerke. die alle untereinander signaltechnisch abhängig waren. Diese waren in ihrem Ursprung rein mechanische Hebelstellwerke, die erst nach der Inbetriebnahme des Reiterstellwerks 1927 ebenfalls auf die elektromechanische Bauart umgerüstet wurden.
Stellwerk „No“ - Neustadt Ost
an der östlichen Bahnhofseinfahrt aus Richtung Hassloch/Mußbach an der Rangieranlage mit Ablaufberg (Gebäude in Privatbesitz)
(s. Abbildungen „Stellwerk “No„ - Neustadt Ost“ in der Mediengalerie)
Stellwerk „Nw“ - Neustadt West
Das Stellwerk „Nw“ - Neustadt West befand sich am westlichen Ende des Bahnsteigs der Gleise 4 und 5 (Gebäude abgebrochen)
(s. Abbildung „Ehemaliges Stellwerk “Nw„ - Neustadt West“)
Stellwerk „Ns“ - Neustadt Süd
Das ehemalige Stellwerk „Ns“ - Neustadt Süd befand sich an der südlichen Bahnhofseinfahrt aus Richtung Maikammer am Bahnübergang der Speyerdorfer Straße (Gebäude abgebrochen)
(s. Abbildung „Ehemaliges Stellwerk “Ns„ - Neustadt Süd“)
Rangierstellwerk (Gebäude abgebrochen)
Das ehemalige Rangierstellwerk stand an der Bahnüberführung in der Landauer Straße und war für die Rangierbewegungen an der Ladestraße und der Güterabfertigung zuständig.
(s. Abbildung „Ehemaliges Rangierstellwerk an der Landauer Straße“)
Für die Betriebsdurchführung war es erforderlich, alle Stellwerke mit mindestens einer Kraft zu besetzen. Auf dem Reiterstellwerk waren dazu allerdings drei Leute erforderlich: Fahrdienstleiter, Weichenwärter und Zugmelder. Auf den anderen Stellwerken jeweils ein Weichenwärter.
Zum Zeitpunkt der Ausserbetriebnahme der Anlage im Jahre 1999 waren alle Stellwerke mit elektromechanischen Anlagen der Bauart E43 ausgerüstet. Das Rangierstellwerk war wenige Jahre vorher schon ausgeschieden und man hatte die Weichen auf örtliche Bedienung (= sog. Handweichen) umgebaut.
Unabhängig von den Stellwerken gab es innerhalb des Bahnhofsbereichs mehrere Bahnübergänge für den öffentlichen Straßenverkehr, die von Schrankenwärtern bedient wurden. So z.B. in der Karolinenstraße / Talstraße (besteht heute noch in modernisierter Form), Lachener Straße, Speyerdorfer Straße (Bedienung durch Stellwerk Ns, besteht heute noch in modernisierter Form), Feldweg in der Fortsetzung der Robert-Stolz-Straße (Bedienung durch Stellwerk No - besteht heute noch als Übergang für Fußgänger).
Bei einem Bombenangriff im März 1945 wurde unter anderem auch das Stellwerk l, wie das Reiterstellwerk seinerzeit noch bezeichnet wurde, erheblich beschädigt. Allerdings konnten die Schäden am Gebäude und den technischen Anlagen wieder instand gesetzt werden.
Gegen Ende der 1970er Jahre zeigten sich an allen Stellwerksgebäuden allmählich bauliche Mängel. Da man eine Umstellung auf modernere Stellwerksbauarten zwar als notwendig befunden, aber unter anderem aus Geldmangel immer wieder verschoben hatte, erfolgte zu Beginn der 1980er Jahre eine umfassende Renovierung aller Stellwerksgebäude. Das Rangierstellwerk war zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschieden und abgebrochen worden. In dieser Form blieben alle Stellwerke bis zur Umstellung auf moderne Technik noch beinahe zwei weitere Jahrzehnte in Betrieb.
Die Außerbetriebnahme aller genannten Stellwerke erfolgte am 16.05.1999, um 01.11 Uhr nachdem als letzter Zug die Regionalbahn 6489 den Bahnhof Neustadt verlassen hatte. Wenige Stunden später, um 6.45 Uhr war die Umstellung beendet und sein Nachfolger, ein elektronisches Stellwerk (ESTW) der Bauart L90 hatte den Betrieb übernommen; StadtExpreß 3343 war der erste Zug. (Walter Jonas, Marcus Klein)
Ursprünglich wurde das Reiterstellwerk als „Stellwerk l“ bezeichnet, trug später die Bezeichnung „Nf“ = „Neustadt Fahrdienst“, die auch heute noch am Gebäude außen angebracht ist.
Neben den Stellwerken im Neustadter Hauptbahnhof - Stellwerke No, Ns und Nw - übernahm die neue Anlage auch die Funktion der Stellwerksanlagen in den Bahnhöfen Hassloch, Edenkoben, Lambrecht und Weidenthal. Für die Arbeit, die allein in Neustadter Hauptbahnhof sechs Kräfte, in den nun angeschlossenen weiteren Betriebsstellen je eine Kraft erforderlich waren, übernehmen insgesamt drei Kräfte deren Tätigkeit. Die Bedienung des elektronischen Stellwerkes erfolgt inzwischen aus der Betriebszentrale der DB Netz AG in Karlsruhe.
Epilog
Nach der Umstellung auf zeitgemäße Leit- und Sicherungstechnik wurden die Stellwerksanlagen, ausgenommen im Reiterstellwerk, zurückgebaut und die nunmehr leeren Stellwerksgebäude Nw und Ns abgetragen. Der gebäudebauliche Teil des ehemaligen Stellwerks No existiert weiterhin und befindet sich in Privatbesitz. Das Reiterstellwerk Nf blieb im Wesentlichen erhalten. Lediglich die Relaisanlagen wurden entfernt. Der Dienstraum mit Hebelbank, Schalteinrichtungen usw. blieb erhalten. Die fast 100 Schaltplätze sind ein seltenes Beispiel für die Eisenbahntechnik in der Weimarer Zeit. (Huyer, S. 84)
Bei mehreren Großveranstaltungen wie Plandampfveranstaltungen bewährte sich das Reiterstellwerk als Stützpunkt der jeweiligen Betriebsleitung. Im übertragenen Sinn ist es also immer noch ein „Befehlsstellwerk“. (s. Abbildung „Plandampfveranstaltungen im Schatten des Reiterstellwerk Neustadt an der Weinstraße“)
Kulturdenkmal
Das Reiterstellwerk steht unter Denkmalschutz. Es wird im Nachrichtlichen Verzeichnis der Kulturdenkmäler in der kreisfreien Stadt Neustadt an der Weinstraße (Stand 07.06.2022, dort S. 4) geführt. Der Eintrag lautet:
„Bahnhofplatz 6
Bahnhof; Empfangsgebäude und Anbauten; zweieinhalb- bis dreigeschossiger spätklassizistischer Bau, 1866,
Mansardwalmdach und Neurenaissancefassade 1894; Reiterstellwerk, Heimatstil, Arch. Reichsbahnrat Grunwald, 1926“
(Reiner Frank, Neustadt, März 2023)
Quellen
Pfalzbahn: Bahnhofsplan, Oktober 1895
Internet
Firmengschichte Wayss und Freitag