Die Einschornsteinsiedlung in Duisburg-Neudorf ist eine von vier Typenhaussiedlungen in Duisburg und ein Paradebeispiel für das „Neue Bauen“ der 1920er Jahre. Sie „... erfüllte hohe Standards hinsichtlich Bauweise, Wohngrundrissen und -komfort, Funktionalität, Gestaltung, Infrastruktur und des sozialen Reformgedankens.“ (baukunst-nrw.de) Derart konsequente moderne Siedlungen sind im Rheinland durchaus rar. Dass sich in Duisburg so zahlreiche hervorragende Beispiele finden, ist nicht zuletzt ein großer Verdienst der damaligen städtischen Bauverwaltung.
Neues Bauen Siedlungen des Neuen Bauens verkörperten nicht nur eine neue Form architektonischer Gestaltung, sondern verfolgten auch eine Reform des Wohnens. Ganz diesen Ideen verpflichtet entspricht die Einschornsteinsiedlung dem klassischen Bauhausanspruch auf Klarheit und Moderne und fügt sich somit in die damalige international geführte Diskussionen über das „Neue Bauen“ ein. Der noch erhaltene markante Schornstein war Teil des Versorgungsfunktionen bündelnden Zentralgebäudes. Als Zeichen für Modernität gab er der Siedlung ihren Namen. Mit ihren geschlossenen, begrünten Strukturen bietet die Siedlung bis heute ein Refugium von hoher Wohn- und Lebensqualität innerhalb der verdichteten Stadtlandschaft. Durch die großzügige Ausstattung mit Freiraum, der ehemals zur Existenzsicherung genutzt wurde, bietet sie heute eine hohe Lebensqualität in einem schwierigen ökonomischen Umfeld. Sozialgeschichtlich und städtebaulich von hoher Bedeutung, wurde die zwischen 1928 und 1930 errichtete Siedlung in ihren baulich unveränderten Teilen 1985 unter Denkmalschutz gestellt und zählt heute zum unverwechselbaren kulturellen Erbe Duisburgs.
Historische Entwicklung „Die rasante wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Duisburg zu Beginn des vorigen Jahrhunderts hin zu einer Industriestadt, geprägt von Kohlebergbau, Hütten- und Stahlwerken, führte auch zu einer schnellen Bevölkerungszunahme und einem damit verbundenen hohen Bedarf an Wohnraum. Um die vielen zugezogenen Menschen beherbergen zu können, setzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine rege Bautätigkeit ein.“ (Stadt Duisburg 2006, S.4) Mehrere große Bauvorhaben wurden teilweise mit städtischer Förderung durch gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften realisiert. Schon 1927 besaß Duisburg drei vom Stadtbauamt entwickelte Typenhaussiedlungen, die an die Entwicklungen des Neuen Bauens anschlossen: die Dickelsbachsiedlung (1926), die Diergardt-Siedlung (1927) und die Siedlung Ratingsee (1927). Anders als bei diesen Arbeitersiedlungen, die im kommunalen Wohnungsbau der 1920er Jahre neue Maßstäbe setzten, handelt es sich bei der Einschornsteinsiedlung um ein Wohngebiet, das auch höheren Ansprüchen genügen sollte.
Die Entwicklung des Stadtteils Neudorf setzte mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Im südlichen Teil von Neudorf gab es um 1900 noch keine geschlossene Bebauung, lediglich einzelne, nach und nach zu einer straßenbegleitenden Bebauung verdichtete Gebäude im Stil der Gründerzeit. Das für die neue Siedlung vorgesehene Gebiet wurde überwiegend landwirtschaftlich genutzt.
Der damalige Beigeordnete Karl-Ulrich Pregizer, gleichzeitig Leiter des städtischen Bauamtes, hatte sich bereits einen Ruf als Förderer des Neuen Bauens erworben und beschäftigte mit Heinrich Bähr und Hermann Bräuhäuser auch zwei planende Architekten. Sie griffen die damals in Deutschland und den Niederlanden stattfindenden Entwicklungen in Architektur und Städtebau auf und passten sie an Duisburger Bedürfnisse an. So wurden außergewöhnliche Konzepte entwickelt und die Architektur für das moderne Leben am Stadtrand darauf abgestimmt. Die Einschornsteinsiedlung war von vorneherein als Wohnort für den Mittelstand konzipiert und hatte keinen unmittelbaren Werksbezug, wie dies bei vielen älteren Siedlungen in Duisburg der Fall war.
Entgegen der drei anderen Typenhaussiedlungen war die Einschornsteinsiedlung keine städtische Planung, sondern wurde nach dem Siegerentwurf eines durch den Bauherrn, die Gemeinnützige Bauverein Essen AG (Allbau), ausgeschrieben Wettbewerbs umgesetzt. Die Allbau, gegründet 1919, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, der Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg mit sozialen Bemühungen entgegenzutreten. Zum Leitbild gehörten neben dem Zusammenhang von sozialem Engagement, ökonomischem Nutzen und technischem Fortschritt auch die künstlerische Ausgestaltung. Der mit dem 1. Preis prämierte Entwurf der zur damaligen Zeit eher unbekannten Ruhrorter Architekten Johannes Kramer und Walter Kremer wurde in nur zwei Jahren Bauzeit realisiert. Die Architekten waren zwar keine Bauhausschüler, aber von Walter Gropius inspiriert, haben sie Prinzipien wie Zweckmäßigkeit und Sachlichkeit konsequent umgesetzt. Als Mitverfasser des Siegerentwurfs ist Stadtbaurat Hermann Bräuhäuser genannt, woran der große Einfluss der Stadtverwaltung auf den Wettbewerb ablesbar wird. Bräuhäuser war auch bei den anderen städtischen Typenhaussiedlungen beteiligt, und so wurden die gestalterische Haltung und der soziale Reformgedanke auch bei der Einschornsteinsiedlung zum Leitbild.
Der namensgebende Schornstein des „Zentralgebäudes“ wurde erst im Ausführungsentwurf ergänzt, nachdem entschieden wurde, das eine konventionelle Kohleheizanlage anstelle der ursprünglich geplanten fortschrittlicheren Gaszentralheizung zum Einsatz kommen würde.
Städtebaulicher Bezug „Die drei städtischen Siedlungen am Dickelsbach, Ratingsee- und Diergardt-Siedlung, die fast zeitgleich mit der Einschornsteinsiedlung entstanden, beruhten jeweils auf einem Typenhaus - jedes Haus war gleich aufgebaut und zu schnurgeraden Reihenhauszeilen aufgereiht. In der Einschornsteinsiedlung war hingegen eine gewisse Vielfalt an unterschiedlichen Wohnungsgrößen gewünscht. Sie weist daher Mehrfamilienhäuser und Reihenhäuser auf, die aus jeweils zwei nur leicht voneinander abweichenden Grundrisstypen bestehen. Sie bilden miteinander kombiniert jeweils einen von Straßen umschlossenen offenen Baublock: an den langen Seiten Mehrfamilienhäuser, an den schmalen Seiten Reihenhäuser.“ (Stadt Duisburg 2006, S.17/18)
Die Einschornsteinsiedlung fügt sich in das entstehende Stadtviertel ein, indem sie bestehende bzw. geplante Straßenzüge aufnimmt und weiterführt. Das Zentralgebäude mit dem hohen Schornstein liegt in der Achse der 1912 errichteten Gabrielkirche und bildet somit ein raumwirksames Pendant zum Kirchturm. Ein rechtwinkliges Straßenraster - und anders als beim gründerzeitlichen Städtebau - eine offene Bebauung, führten zu einer hellen und lichten städtebauliche Großzügigkeit, die bis heute in der Siedlung spürbar ist.
Charakter der Siedlung Drei Strukturelemente sind wesentlich für die Einschornsteinsiedlung: die Wohngebäude, das Zentralgebäude sowie die Freiflächen und Gärten.
Wohngebäude Die mit einem Flachdach - für die 1920er Jahre revolutionär - versehenen würfelartigen Gebäude der 81 Einfamilien-Reihenhäuser (Typ III und IV) und 72 Mehrfamilienhäuser mit 360 Wohnungen (Typ I und II) setzten sich entlang der rechtwinklig angelegten Straßen zu entsprechend rechteckigen Wohnblöcken zusammen. Die Flachdachbauweise, die zum modernen Erscheinungsbild der Siedlung beitrug, wurde möglich, weil das Zentralgebäude bereits über eine technische Ausstattung zum Wäschewaschen und -trocknen verfügte und damit die bis dato notwendigen Dachböden als Trockenräume überflüssig machte. Zur aufgelockerten Erscheinung der 2,5- und 3-geschossigen größeren Gebäude tragen gestaffelten Geschosse mit in der Höhe zueinander versetzten Loggien und zurückliegenden Treppenhäusern bei. Die Wohnungen besitzen 2 bis 4 Räume auf 65-80 m² Wohnfläche. Die Höfe im Blockinnenbereich waren als gemeinsame Außenräume konzipiert. Die zweigeschossigen Einfamilien-Reihenhäuser besitzen 87 m² bzw. 102 m² Wohnfläche. An der Rückseite befindet sich ein Erker-/Balkonanbau und im Anschluss das zugeordnete Gartengrundstück. Ursprünglich waren die Fassaden entsprechend der jeweiligen Ausrichtung konsequent in den Primärfaben Rot (Südwest), Gelb (Nordost) und Blau (Nordwest und Südwest) gestrichen, was die Dreidimensionalität der Baukuben geradezu plastisch hervorhob. Heute sind die Farben im Ton etwas abgemildert.
Zentralgebäude Zusammen mit dem städtischen Baurat Hermann Bräuhäuser stellten die Architekten in den Mittelpunkt der Siedlung ein zentrales Gebäude, dass nicht nur der architektonische Mittelpunkt, sondern durch die hier untergebrachten Gemeinschaftseinrichtungen, auch das soziale Zentrum war. Ein Heizkraftwerk versorgte mit Fernwärme und Warmwasser die komplette Siedlung. Das war ein bemerkenswerter Komfort in einer Zeit, als die überwiegende Zahl, selbst wenige Jahrzehnte zuvor errichteter Wohnungen, noch mit Einzelbrandöfen für jeden Wohnraum ausgestattet waren. Die Idee, in dem Waschhaus auch eine Zentralbadeanstalt mit einzelnen Wannenbädern unterzubringen, wurde letztlich, zugunsten von Bädern in den Wohnungen, aufgegeben. Den fortschrittlichen Charakter der Siedlung unterstreichend, befand sich in einem weiteren Trakt eine Zentralgarage für Fahrzeuge der durchaus wohlhabenderen Zielgruppe der Mietwohnungen.
Freiflächen/Gärten Die Gestaltung der gärtnerischen Anlagen wurde vom damals führenden Gartenplaner Leberecht Migge, der u.a. auch mit Walter Gropius zusammenarbeitete, durchgeführt. Großflächig bemessene Grünflächen zeigen, welche ausgeprägte soziale und funktionale Bedeutung sie für das Gesamtkonzept hatten. Die nach englischem Vorbild angelegten Gemeinschaftsflächen zwischen den Mehrfamilienhäusern waren den Hausbewohnern vorbehalten. Im Zentrum großer Rasenflächen befanden sich mit Pappeln und Feldahornhecken umrahmte, vertieft gelegene Spielplätze. Auch die Privatgärten waren einem strengen Pflanzschema unterworfen, wobei sowohl Ziergärten und als auch Nutzgärten zur teilweisen Selbstversorgung entstehen sollten. „Die Schrebergärten im südwestlichen Teil der Einschornsteinsiedlung sind in der ursprünglichen publizierten Planung Migges nicht enthalten; da er solche Anlagen propagierte und in anderen Siedlungen vorsah, kann aber davon ausgegangen werden, dass diese Planänderung seinen grundsätzlichen Intentionen entsprach.“ (Stadt Duisburg 2006, S.26)
Der Gemeinschaftsgedanke Siedlungen des Neuen Bauens verknüpften eine rationelle und ökonomische Bauweise, eine möglichst hohe Lebensqualität und die Förderung der sozialen Gemeinschaft miteinander. Im „Zentralgebäude“ wurden neben dem Heizkraftwerk auch eine Vielzahl gemeinschaftsdienlicher Funktionen gebündelt: Kinderhort, Gaststätte, Versammlungssaal mit Bühne, Geschäfte und ein Waschhaus fürs Wäschewaschen und -trocknen, was zu einer Zeit, in der es bisher kaum Waschmöglichkeiten für die Bewohner und deren Kleidung gab, sehr komfortabel war. Die Einschornsteinsiedlung brachte somit nicht nur einen deutlichen Fortschritt an Wohnkomfort, sondern war auch mit dem sozialen Gedanken verknüpft, bei dem es um die Schaffung und den Zusammenhalt einer Siedlungsgemeinschaft ging.
Die Nachkriegszeit Durch die teilweise Zerstörung des Zentralgebäudes im Zweiten Weltkrieg wurde eine Phase der individuellen Ofenheizung eingeleitet, die in der Nachkriegszeit durch den Anschluss an die Fernwärme abgelöst wurde. In den 1950er Jahren wurde der im Krieg zerstörte Saalbau durch einen zeittypischen Wohnblock ersetzt.
„Mit dem zunehmenden Wohlstand der Nachkriegszeit und der fortschreitenden Einbindung der Siedlung in das Stadtgefüge des teils wiederaufgebauten, teils erweiterten Stadtteils Neudorf entfiel auch der Bedarf nach den sozialen Funktionen, die das Zentralgebäude vor dem Krieg angeboten hatte. Weder das gemeinsame Waschhaus noch der Saal als Versammlungsstätte wurden noch benötigt. Damit einher ging der Verlust der Idee der Siedlungsgemeinschaft.“ (Pufke 2019, S. 76)
Nach 1990/Privatisierung Während die Einfamilienhäuser in den 1990er Jahren an die jeweiligen Bewohner veräußert wurden, wurden die Mehrfamilienhäuser zwischen der Treuhandgesellschaft und zwei großen Wohnungsbaugesellschaften aufgeteilt. Eine Tendenz zur Individualisierung, z.B. Wintergärtenaufbauten, veränderte das einheitliche Erscheinungsbild nachteilig. Um den heutigen Bedürfnissen der Bewohner zu genügen, wurden an den Mehrfamilienhäusern außenliegende Balkons angebracht und die Innenhofgestaltung teilweise in private Grünflächen umgewandelt. Zur Wiederherstellung eines einheitlichen Erscheinungsbildes wurde 1997 auf Grundlage der nachgewiesenen Originalfarben ein Farbkonzept gewählt, dass die Verwendung von geringfügig abgemilderten Blau-, Rot- und Gelbtönen für die Putzflächen der Gebäude vorsah.
Der nach dem Krieg verbliebende Restflügel des „Zentralgebäudes“, bestehend aus Waschhaus und Heizungskeller, konnte keiner sinnvollen Nutzung mehr zugeführt werden und verfiel zusehends. Das Gebäude verkam zum Schandfleck, wurde 2007 dann abgerissen und durch moderne Stadthäuser, die sich harmonisch in die Siedlungsgestalt einfügen, ersetzt. Heute erscheint die Siedlung in einem einheitlichen Bild ohne monoton zu wirken. An langen schnurgeraden Straßen stehen zwei- und dreigeschossige Häuser, gegliedert durch Vor- und Rücksprünge und versetzte Geschosse. Es gibt reine Wohnstraßen im ganzen Quartier und Platz für 15 Geschäfte und kleine Dienstleistungsunternehmen. Von der Stadt Duisburg wurde 2006 eine Gestaltungsfibel erstellt, die ausführlich die Bedeutung der Siedlung aus Denkmalsicht darlegt und den Eigentümern einen Überblick über mögliche bauliche Veränderungsmöglichkeiten gibt. Nach Aussagen von Bewohner*innen hat die Fibel auch ein Stück weit zur Identifikation und Identitätsbildung beigetragen.
Fazit Die 1985 erteilte Unterschutzstellung schaffte die Voraussetzung für die Bewahrung eines der wenigen Zeugnisse des Neuen Bauens im Siedlungsbau des Ruhrgebiets. „Die Gebäude-Architektur schufen lokale Architekten - vielleicht ein Grund, warum die Einschornsteinsiedlung nicht die Bekanntheit erreicht hat wie vergleichbare Siedlungen des Neuen Bauens in Berlin oder Frankfurt, obwohl sie sicher eine ähnliche Bedeutung hat.“ (Stadt Duisburg 2006, S. 24) Der Einschornsteinsiedlung ist durch die weitgehende Zerstörung des „Zentralgebäudes“ im Zweiten Weltkrieg bereits früh ein Kernelement der Siedlungskonzeption verloren gegangen. Übrig blieb ein Wohnquartier, das seinen anfänglichen isolierten „Kolonie-Charakter“ verlor und durch die inzwischen rein private Bewirtschaftungsform auch mit den Folgen des Strukturwandels im Ruhrgebiet zu kämpfen hat.
Internet kultur-bunny.de: Duisburgs Einschornsteinsiedlung (abgerufen am 02.08.2021) baukunst-nrw.de: Einschornsteinsiedlung (abgerufen am 02.08.2021) de.wikipedia.org: Allbau (abgerufen am 02.08.2021)
Literatur
Gropp, Birgit; Kieser, Marco; Kuhrau, Sven / Pufke, Andrea (Hrsg.) / LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland (Hrsg.) (2019)
Neues Bauen im Rheinland. Ein Führer zur Architektur der Klassischen Moderne. Petersberg.
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