Historische Siedlungsentwicklung In Halbhöhenlage der Terrassenzone liegt Kiedrich vor der Taunushöhe, wo der Kiedrichbach aus einem engen Waldtal in eine weite Mulde tritt. Ein alter Verkehrsweg führte hier vom Rhein bei Eltville über den Taunus und die überhöhischen Dörfer; das Hausener Bollwerk bildete einen nahegelegenen Durchlass im Gebück.
Steinzeitliche und urnenfelderzeitliche Funde zeugen von der frühen Besiedlung der Gemarkung. Ein römischer Gutshof, dessen Keller 1903 ergraben wurde, lag zwischen Kiedrich und Eltville. Der Ortsname Ketercho erscheint erstmalig um 1069 (1128 Chitricho, danach Keterecho, Kedercho, Kederich u. a.) und verweist auf eine ältere Schenkungsurkunde des Erzbischofs Friedrich von Mainz, der um die Mitte des 10. Jahrhunderts dem dortigen Petersstift mit der Pfarrei Eltville den Zehnten zu Kiedrich übergab. Der Name ist vielleicht von der Geländebezeichnung Kadrich (von lat. cataracta - steiler Waldweg, Wasserrinne) abzuleiten. Kiedrich war zunächst Teil der Urmark Eltville. Im 10. Jahrhundert noch als viculus (Dörfchen) bezeichnet, erscheint es in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts als vicus und villa (Dorf). Ein dortiger Salhof, ein auf einstiges Königsgut zurückgehender erzbischöflicher Hof, kam als Schenkung 1147 an das Viktorstift. Als selbständige Gemeinde mit eigener Gemarkung, Schultheiß, Gericht und Schöffen ist Kiedrich seit 1244 bezeugt. Als Zeichen der gemeindlichen Selbständigkeit erscheint ein eigenes Gerichtssiegel um 1420, es zeigt den Turm der Burg Scharfenstein mit dem Mainzer Doppelrad.
Die vielleicht im 9. oder 10. Jahrhundert entstandene, 1275 erwähnte erste Kirche hatte als Patron St. Dionysius. Eine eigene Pfarrei ist 1277 nachweisbar. Die nun St. Dionysius und Valentinus geweihte Kirche entwickelte sich rasch zur bedeutenden Wallfahrtsstätte, der heilige Valentin als Patron der Fallsüchtigen (Epileptiker) wurde zum Anziehungspunkt für die Pilger. 1417 wurde durch Kiedricher Bürger ein Spital mit Herberge gestiftet. Eine Elendenbruderschaft besteht 1445, die Valentinusbruderschaft wird 1470 und 1490 durch Erzbischof und Papst bestätigt. Das nahegelegene Kloster Eberbach förderte die Kiedricher Wallfahrt durch Schenkungen von Reliquien, besonders einer Kopfreliquie des hl. Valentin. Der Bau der St. Michaelskapelle 1334-44 wie auch der aufwendige Ausbau der Pfarrkirche in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind eng mit der Wallfahrt verbunden.
Die Ortsbild und Landschaft weithin beherrschende Burg Scharfenstein entstand um 1160 nahe der Straße von Eltville über die Höhe. Sie diente im 13. Jahrhundert zeitweilig als Aufenthaltsort der Mainzer Erzbischöfe, wie aus einigen hier ausgestellten Urkunden hervorgeht. Durch den Bau der Eltviller Burg verlor sie an Bedeutung, zudem übernahm das Gebück die Schutzfunktion für Dorf und Verkehrswege. Zahlreiche Burgmannen, hervorgegangen aus erzbischöflichen Ministerialen, nannten sich nach der Burg „von Scharfenstein“ und verzweigte sich in mehrere Linien, die jedoch bis 1721 vollständig ausstarben.
1525 werden 193 Herdstellen (978 Einwohner und 220 Häuser) gezählt. Neben einem hohen Anteil adliger Grundbesitzer fällt im Spätmittelalter der relativ hohe Bildungsstandart der Bevölkerung auf. Der kirchliche Choralgesang findet bereits 1333 Erwähnung, ein Schulmeister ist ebenfalls seit dem 14. Jahrhundert nachgewiesen. 1671 hat sich die Bevölkerung nach den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges und Epidemien auf 247 Einwohner, davon 3 jüdische Haushalte, und 72 Herdstätten reduziert. Es wird ein Gasthaus (Jahrwirt) im Ort genannt.
In der Gemarkung werden fünf Mühlen gezählt, darunter die fast verfallene des Junkers Horneck von Weinheim, die in gutem Zustand befindliche des Klosters Eberbach, eine Gemeindemühle, eine dem Predigerorden Mainz gehörige sowie eine in Besitz der Erben des Junkers Stockheim. Kiedricher Besitzungen des Klosters Eberbach waren ein Hof mit 1312 gestifteter Kapelle, zwei Klostermühlen und Weinberge im Gräfenberg. Im 17. Jahrhundert verfügen das Kloster Eberbach und der Adel über mehr als die Hälfte der Kiedricher Güter und ziehen weitere bürgerliche Besitzungen an sich, wodurch, nach zeitgenössischer Quelle, der Gemeinde erhebliche Steuermittel entgehen. In der Folgezeit führte ein langsames, aber stetiges Bevölkerungswachstum dazu, dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts der Personenstand von 1525 wieder erreicht war.
Wesentliche Entwicklungsimpulse für den Ort gingen im 19. Jahrhundert von der Initiative des vermögenden englischen Baronet John Sutton (1820-1873) aus, der als Reisender 1857 das Dorf kennen gelernt hatte und Maßnahmen zur Erhaltung seiner Bau- und Kunstdenkmäler in die Wege leitete. Er restaurierte nicht nur die Kirche mit Orgel und Chor auf seine Kosten, sondern unterstützte die Gemeinde auch durch den Bau eigener Häuser im Ortskern sowie von Siedlungshäusern für Bedürftige. Er stiftete soziale Einrichtungen wie die Niederlassung der Dernbacher Schwestern und eine Kinderbewahranstalt. 1865 leistete er mit der Stiftung der Chorschule einen wichtigen Beitrag zur Wiederbelebung und Erhaltung dieser ins Mittelalter zurückreichenden Kiedricher Gesangstradition; die Schule bestand bis 1900. Durch Beauftragung des von ihm besonders geschätzten Kirchenmalers August Martin sowie Beziehungen zu dem belgischen Baron Jean de Bethune, Inhaber einer Werkstatt für Kirchenausstattung, förderte er die Restaurierung etlicher Kirchen und Orgeln im engeren und weiteren Umkreis. Nach seinem Tod in Belgien wurde Sutton 1974 nach Kiedrich überführt und auf dem dortigen Kirchhof beigesetzt. Auch die Gründung des St. Valentinushauses als Krankenhaus für Fallsüchtige und psychisch Kranke geht auf die gemeinschaftliche Initiative von Baronet Sutton und des Geistlichen Rates Johannes Zaun (+1884) zurück, der 1869 die Pfarrei Kiedrich übernahm.
Historisches Ortsbild Parallel zum leicht geschwungenen Talgrund des Kiedrichbaches entwickelte sich der langgestreckte Ort in entlang der Durchgangsstraße von Eltville zur Taunushöhe, wo bei Hausen ein Durchgang im Gebück bestand. In der zentralen Gabelung bei der Pfarrkirche, wo der Weg zum Kloster Eberbach abzweigt, liegt der Marktplatz, um den sich die wichtigen öffentlichen Gebäude gruppierten. Das erste Rathaus nahm den Platz zwischen Pfarrkirche und Michaelskapelle ein und beherbergte auch die Gemeindeschmiede. Seine Fundamente wurden bei Baumaßnahmen angeschnitten. Mit dem Neubau von 1585 verlegte man das Rathaus an die Stelle des um 1423 errichteten, nun baufällig gewordenen Pilgerhospitals am Marktplatz gegenüber der Pfarrkirche. Geblieben ist der in der Kirchhofsmauer eingelassenen Pranger; Prangerstrafen sollen noch bis ins frühe 18. Jahrhundert verhängt worden sein. Ein Teil des alten Pilgerhospitals, einer der ältesten datierten Fachwerkbauten des Rheingaus, ist hinter dem jetzigen Rathaus erhalten.
Während sich größere Adels- und Klosterhöfe einschließlich des Kirchhofes an der zum Bach orientierten Nordostseite bis unmittelbar unterhalb der Burg Scharfenstein aufreihten, entwickelte sich im Westen eine parallele Wegeführung mit dichter, aus kleineren Hofreiten der einfachen Bevölkerung bestehender Bebauung. Das Dorf hatte keine eigene Befestigung in Form von Mauern, jedoch drei Tore, die Eltviller Pforte in der Marktstraße, die Waldpforte und die Binger Pforte; letztere hieß auch Wingert-Porte; sie stand zum Teil bis 1911.
Der Gemarkungsplan von 1772 zeigt die langgestreckte Ortslage Kiedrichs umgeben von Gärten inmitten der durch den Bachgrund, Äcker im Südwesten sowie Weinberge und den Waldrand im Nordosten gebildeten Umgebung. Das Straßenraster besteht aus den parallel verlaufenden Strängen der Ober- und Untergasse mit verbindenen kurzen Gassen. Der nahe dem Ortseingang von Eltville gelegene dreieckige Marktplatz ist der einzige innerörtliche Platz; vor dem Rathaus steht der Marktbrunnen. Weitere Brunnen sind an den Ecken Obergasse/Bingerpfortengasse, an der Einmündung des Borksgässchens in die Obergasse sowie am Straßenschnittpunkt Untergasse/Waldpfortenstraße erkennbar. Während am südwestliche Ortsrand Nutzgärten und zum Mühlbach (Kiedrichbach) hin Baumpflanzungen dargestellt sind, liegt im Innenbereich zwischen Ober-, Unter- und Backhausgasse der mit geometrischen Wegeführungen angelegte Barockgarten des Freiherrn Ritter zu Groenesteyn. Auf der linken Bachseite sind, mit einigem Abstand zur Ortslage, die Klostermühle sowie direkt unterhalb der Burg Scharfenstein die ehemals Scharfensteinischen Burgmannenhöfe (Bassenheimer, Cratzischer und Hornecker Hof) gelegen, zu denen ebenfalls Mühlen gehörten.
Der Katasterplan von 1870 zeigt die Situation im Prinzip unverändert. Bis auf den Neubau des Valentinushauses im Gelände des vormaligen Metternich'schen Hofes gab es kaum Entwicklungen. Im Norden bleibt die Bebauung durch das Bachtal begrenzt, im Süden bildet der Heiligenpfad die Grenze zwischen Hausgärten und der ehemals zum Pilgerhospital gehörigen Heiligenwiese. Die Freiflächen waren als Wiesen und Gärten genutzt (Bornwiese, Tränkgarten, Bangert).
Die auf die Zeit nach 1880 zurückgehenden Straßenpflasterungen im Ort sind in wenigen Bereichen (Kammstraße, Borksgässchen) erhalten. 1890 gab es im Ortsbereich noch 11 öffentliche Brunnen. Ein klassizistischer Pumpenbrunnen vor dem Rathaus – Nachfolger des Renaissancebrunnens von 1541 – ist in älteren Ansichten dargestellt.
Die von Baronet Sutton initiierten baulichen Maßnahmen waren stark von seinem in England gewachsenen historistischen, romantisierenden Architekturverständnis geprägt. Dazu gehörte eine Bevorzugung des gotischen Stils. Auch scheute er sich nicht davor, vorhandene Hofreiten aufzukaufen und abzubrechen, um an ihrer Stelle seine Projekte umzusetzen; dazu gehörten Wohnhaus und Atelier des Malers August Martin in der Marktstraße wie auch sein eigener Wohnsitz im heutigen Weingut Weil.
Der Marktplatz wurde 1891 mit dem Denkmal für die Teilnehmer des Feldzuges 1870/71, zwei Fontänen und Baumpflanzungen neu gestaltet. Bei einer neuerlichen Umgestaltung der Ortsmitte 1974 wurden sämtliche Zutaten des 19. Jahrhunderts wieder entfernt und stattdessen ein moderner Brunnen aufgestellt. Die bei verschiedenen Bauarbeiten aufgefundenen Einzelteile eines Renaissancebrunnens wurden 1999 zu einer Rekonstruktion zusammengefügt und an der Kirchhofmauer aufgestellt.
Erst die Wohngebiete des 20. Jahrhunderts dehnten die bebauten Flächen im Süden und Westen des Ortskernes aus, wodurch der frühere Siedlungsrand an dieser Seite unkenntlich wurde. Demgegenüber blieb die Baugrenze zum Bachgrund hin weitgehend unverändert bestehen. Jüngere Entwicklungen von starker landschaftsverändernder Wirkung sind sowohl in Gewerbeansiedlungen im Tal des Kiedrichbaches, ausgehend von den dortigen Mühlenstandorten, sowie in der bedeutenden Erweiterung von Wohngebieten westlich der Eltviller Straße zu beobachten.
(Landesamt für Denkmalpflege Hessen 2013/2020)
Literatur
Söder, Dagmar / Landesamt für Denkmalpflege Hessen (LfDH) (Hrsg.) (2013)
Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Kulturdenkmäler in Hessen: Rheingau-Taunus-Kreis I. (Altkreis Rheingau). Wiesbaden.
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