Danach gab es erfolgreiche Versuche, die Landesregierung für dauerhafte Rodungen im Reichswald zu gewinnen. Kurz nach einer Kabinettssitzung und einer Besichtigung der Zerstörungen am 7.6.1948 in Kleve beschloss die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, eine zusammenhängende Kahlschlagfläche von 500 Hektar für Siedlungszwecke bereitzustellen, die in den völlig verwüsteten Revieren Grunewald und Nergena vorhanden waren. Eine Kommission wurde damit beauftragt, Möglichkeiten für die Einrichtung von zwei Dörfern zwecks Ansiedlung vertriebener Landwirte zu untersuchen. Die Kommission einigte sich mit der Forstverwaltung darauf, im Revier Asperden eine Fläche von 740 Hektar auszuweisen. Aufgrund der schlechteren Gründungsbedingungen für ein geplantes Dorf in der Eifel bei Monschau beschloss man, gleich zwei Dörfer im Reichswald einzurichten und hierfür etwa 1.000 Hektar Siedlungsfläche bereitzustellen. Darüber hinaus hat das Siedlungsamt des Landkreises Kleve das Ministerium gebeten, Flächen zur Errichtung von Kleinsiedlerstellen auszuweisen.
Die Siedlungspläne waren jedoch nicht unumstritten. In der Rheinischen Post vom 25.8.1948 wurden die Folgen des Siedlungsplanes für die landwirtschaftlichen Flächen des unteren Niederrheins und den Grundwasserstand kritisch betrachtet. Auch die Forstverwaltung hatte Bedenken, da sich nach der Währungsreform die Wirtschaftssituation wesentlich gebessert hatte und Saatgut und Forstpflanzen nun in ausreichender Menge zur Verfügung standen. So wurden 1950 von 5.000 Hektar kulturbedürftiger Flächen rund 900 Hektar aufgeforstet. Innerhalb der heimischen Bevölkerung gab es ebenfalls Bedenken weiter Waldflächen zu opfern und Gegenstimmen gegen die geplanten Rodungen. Ein anderer Beweggrund für Kritik war die empfundene Bevorzugung der Heimatvertriebenen.
Trotz des Widerstandes wurden die Siedlungspläne per Erlass vom 6.8.1948 genehmigt und die gemeinnützige Siedlungsgesellschaft „Rheinisches Heim“ beauftragt, eine Fläche von 500 Hektar bei Asperden und eine von 400 Hektar südwestlich von Hau für die Besiedlung vorzubereiten. Am 17.9.1948 begannen die Rodungsarbeiten im Abschnitt A (Nierswalde). Granattrichter, Betonbunker des Westwalls und Munition behinderten die Arbeiten. Bei der Rodung wurden ca. 150.000 Festmeter Stockholz geerntet, das in einer Verschwefelungsanlage, die bis 1954 in Betrieb war, zu Holzteer verarbeitet wurde. Außerdem konnten noch Holzkohlen, Brenn- und Tankholz für die Holzgeneratoren der Fahrzeuge gewonnen werden. Insgesamt wurden ca. 60.000 Kubikmeter Erde bewegt und der Waldboden für den Ackerbau aufbereitet. Im Sommer 1949 erfolgte die erste Aussaat mit Gras und Ende September mit Winterfrucht. Die erste Getreideernte wurde 1950 eingefahren.
Von den drei Siedlungen Reichswalde (im Nordwesten), Nierswalde (im Süden) und Vorschlag (ursprünglich Rodenwalde) erhielten Reichswalde und Nierswalde einen Ortskern. Rodenwalde wurde für die Verwaltung Nierswalde zugeschlagen. Die Gesamtzahl der Siedlerstellen (205) wurde nach einem strengen Selektionsverfahren im Verhältnis 140:65 auf Flüchtlinge und Einheimische aufgeteilt; 142 Hektar bekamen als so genanntes Anliegerland zur Flächenaufstockung die benachbarten bäuerlichen Betriebe.
Bei den neuen Siedlerstellen unterschied man der Größe der Siedlerstellen nach
- „Zweispänner“ (15 Hektar),
- „Einspänner“ (7,5 Hektar),
- „Gärtner“ (3,75 Hektar) und
- „Nebenerwerbsstellen“ (1 bis 1,5 Hektar),
die folgendermaßen auf die drei Siedlungen aufgeteilt waren:
Nierswalde | Reichswalde | Vorschlag | Gesamt | |
Zweispänner | 22 | 14 | 15 | 51 |
Einspänner | 14 | 7 | 4 | 22 |
Gärtnerstellen | 31 | 18 | 4 | 53 |
Nebenerwerbsstellen | 34 | 43 | 2 | 79 |
Gesamt | 101 | 82 | 22 | 205 |
Die Siedler wurden ebenfalls nach ihrer Religionszugehörigkeit ausgewählt. Die protestantischen Siedler bekamen hauptsächlich Siedlerstellen in Nierswalde wegen der Nähe zum evangelischen Pfalzdorf zugewiesen, die katholischen Siedler in Reichswalde und Vorschlag, unweit vom katholischen Materborn.
Bis 1969 waren Reichswalde und Nierswalde eigenständige Gemeinden. Reichswalde wurde 1969 im rahmen einer landesweiten Kommunalreform nach Kleve und Nierswalde nach Goch eingemeindet.
Nach 1951 errichtete die „Rheinische Heimstätten GmbH“ mit Sitz in Düsseldorf in Reichswalde und Nierswalde 80 weitere Kleinsiedlerstellen mit 800 bis 1.000 Quadratmetern Gartenfläche, was die Ortskernbildung förderte. Reichswalde wuchs in der Folgezeit mit Materborn zusammen. Bis 1960 stieg die Einwohnerzahl in Reichswalde auf 1033, in Nierswalde auf 723 Personen, was den Erfolg der Reichswaldsiedlungen noch einmal bestätigte.
Obwohl die Reichswaldsiedlungen mit Ausnahme vom ehemaligen Rodenwalde sich baulich mit flächigen Neubaugebiete erweitert haben, ist die Originalstruktur dieser Siedlungen noch gut erkennbar erhalten geblieben. In den Ortskernen, in denen sich ursprünglich vor allem Gärtner- und Nebenerwerbsstellen befanden, ist die originäre Siedlungsstruktur durch die innerörtliche Bebauungsverdichtung tangiert worden. Im Außenbereich gibt es noch einige Ein- und Zweispännergehöfte, die substanziell gut erhalten sind. Aber viele Gehöfte, Gärtner- und Nebenerwerbsstellen sind in den letzten Jahrzehnten modernisiert und umgestaltet worden.
Der Entwicklungsgang der Reichswaldsiedlungen lässt sich kartographisch sehr anschaulich über die historischen Karten der spätere Ausgaben der topographischen Karte 1:25.000 vervolgen (TK25 history, Blatt 4202 Kleve).
(Peter Burggraaff, Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz e.V., 2012, 2022)
Quellen
Topographische Aufnahme 1:25.000 (Neuaufnahme) der Königlichen preußischen Landesaufnahme. Aufnahme 1895 1912. Blatt 4203 Kalkar, 4204 Rees, 4302 Goch, 4303 Uedem. Bonn Bad Godesberg.
Topographische Aufnahme 1:25.000 des Reichsamts für Landesaufnahme. Blatt 4202 Kleve (1938). Bonn Bad Godesberg.
Topographische Karte 1:25.000 (1952 2018). Blatt 4202 Kleve. Bonn Bad Godesberg u. Köln.
TK25 history: eine Geschichte über die Veränderung der Landschaft im Wandel der Zeiten. Blatt 4202 Kleve. Köln u. Koblenz.