Um das Jahr 1900 waren, mal abgesehen von einigen Baumalleen an Straßen, Obstbaumreihen auf einem Feld in der Pfalz noch völlig unbekannt; in jedem Garten und Acker standen zwar Obstbäume, aber solitär und oft am Rande. Es waren meist Apfel- oder Birnenbäume, dazu noch Zwetschgen- und Mirabellenbäume, ein Pfirsichbaum aber war damals nahezu unbekannt. Das geerntete Obst diente in aller Regel dem eigenen Haushalt; für den Winter wurde es eingekocht oder kühl gelagert.
Die wachsende Stadtbevölkerung braucht Obst
Obrigkeit fördert Vereinswesen zur Beratung und Bildung im Obstanbau
Glücksfall Georg Sitzenstuhl
Exkurs: die Marktschees
Kriegs- und Nachkriegszeit
Die Konkurrenz aus der EWG macht sich bemerkbar
Quellen / Internet
Die wachsende Stadtbevölkerung braucht Obst
Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts war in Deutschland eine enorme Entwicklung und Aufbruchsstimmung zu spüren, einhergehend mit der Industrialisierung und einer Bevölkerungszunahme, isbesondere in den Städten. Eine auskömmliche Versorgung mit Obst und Gemüse wie anfangs beschrieben war für diesen Teil der Bevölkerung jedoch nicht mehr gegeben. Dies rief die damalige Bezirksregierung in Speyer auf den Plan. Sie forderte zu einem verbesserten und verstärkten Anbau von Obst und Gemüse zum Verkauf in den Gemeinden der Pfalz auf und empfahl den Zusammenschluss in Vereinen, die der Beratung, Schulung und gegenseitigen Hilfestellung (z.B. durch Ausleihe einer gemeinsam angeschafften Obstbaumspritze) dienten.
Obrigkeit fördert Vereinswesen zur Beratung und Bildung im Obstanbau
In Heiligenstein – wie auch im gleichen Jahr in Berghausen – kam es daraufhin im Jahr 1903 zur Gründung eines „Obstbauvereins“. An der Spitze des Heiligensteiner Vereins stand Bürgermeister Heinrich Koch. Die Aktivitäten blieben aber in der Folgezeit überschaubar. Erst nach dem 1. Weltkrieg, als Georg Sitzenstuhl im Jahr 1921 den Vorsitz übernahm, begann ein Umdenken unter den Landwirten. Mit zahlreichen Informationsabenden zu Baumpflege und Schädlingsbekämpfung, mit dem Drängen auf die Anlage von neuen Baumkulturen, gelang es Georg Sitzenstuhl, der beruflich Berater für Obst- und Gartenbau beim Landratsamt Speyer war, innerhalb weniger Jahre nicht nur die Erträge auf dem Acker, sondern auch die Mitgliederzahlen des Obst- und Gartenbauvereins Heiligenstein kräftig zu erhöhen. Waren es bei Übernahme des Vorsitzes im Jahr 1921 gerade mal 11 Mitglieder, so zählte der Verein im Jahr 1930 121 Mitglieder.
Glücksfall Georg Sitzenstuhl
Sitzenstuhl war in seiner beruflichen Funktion auch in Berghausen aktiv. Auch hier empfahl er den Anbau von Pfirsichen (und Mirabellen) und Erdbeeren als Unterkulturen. Mit der Auswahl von ganz bestimmten Sorten bei der Neuanlage konnte Obst in größeren Mengen angeliefert und über den Großhandel abgesetzt werden. So brach in beiden Gemeinden, Heiligenstein und Berghausen, in den Folgejahren nach 1930 die „1. Blütezeit“ an. In der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Obst- und Gartenbauvereins Berghausen heißt es wörtlich: „Der Erfolg der Neupflanzungen von Pfirsichen mit Erdbeeren als Unterkulturen zeigte sich jetzt. Zur Zeit der Ernte konnten täglich durch den Großmarkt Waggons an Erdbeeren an die Großmärkte verladen werden.“ Im Jahr 1934 waren es in Heiligenstein beispielsweise 908 Zentner Pfirsiche und 2 Jahre später, im Jahr 1936, sogar 3.522 Zentner Erdbeeren. Nach getaner Arbeit auf dem Acker ging es mit dem Leiterwagen oder der Marktschees voll mit Körben und frischen Früchten zu der Abnahmestelle am Bahnhof. Dort standen sie dann in Reih und Glied und warteten auf das Einwiegen und den Lieferschein. Die Vermarktung des Obstes hatte zwischenzeitlich auch eine bedeutende wirtschaftliche Größe erreicht, die es erforderlich machte eine Absatzgenossenschaft zu gründen. So formierte sich in Heiligenstein im Jahr 1931 eine Obst- und Gemüseabsatzgenossenschaft; ähnliches geschah auch in Berghausen. Beide örtliche Genossenschaften hatten Bestand bis in die Mitte der 60er Jahre und gingen dann im Großmarkt Schifferstadt auf.
Exkurs: die Marktschees
Auf zahlreichen älteren Fotos findet man sie, in der heutigen Realität ist sie dagegen nur noch selten zu sehen: die Marktschees. Sie war bis in die 60er Jahre und dem vermehrten Aufkommen von Autos das Transportmittel innerhalb des Dorfes schlechthin. Jeder Haushalt hatte eine solche; sie wurden von Generation zu Generation weitergegeben und notfalls immer wieder repariert. Typisch für sie – sie ist ein Schiebewagen, ganz im Gegensatz zu einem Handwagen, der gezogen wird. Sie bestand aus einem rechteckigen, größeren Korb und zwei starren Achsen darunter mit vier eisenbereiften Holzrädern, später Gummireifen. Zum Schieben gab es eine waagrechte Holzstange in Griffhöhe – und zum Lenken musste man sie leicht anheben und in die gewünschte Richtung drücken. Heute sind die Marktscheesen fast nur noch bei festlichen Umzügen zu bewundern, wenn beispielsweise die Frauen der Weiberbratenvereinigung beim jährlichen Brezelfestumzug vorbeiziehen (siehe auch Video zur Marktschees in der Mediengalerie).
Kriegs- und Nachkriegszeit
Die Kriegswirren und auch die sehr kalten Winter 1939 bis 1941 sorgten mit dafür, dass ein großer Teil der Obstkulturen vernichtet waren. 1948 wurden in Heiligenstein nur noch 5.000 Pfirsichbäume und 4 Morgen Erdbeerkulturen gezählt – und erst jetzt gab die französische Besatzungsmacht grünes Licht für ein Aufleben der Tätigkeit des Obst- und Gartenbauvereins. Georg Sitzenstuhl, immer noch Vorsitzender des Vereins, zögerte nicht lange und warb bei seinen Landwirten im Ort um Neuanpflanzungen. Bei einer Zählung im Jahr 1951 war die Zahl der Pfirsichbäume schon wieder auf 16.000 Stück gestiegen und Tausende von neuen Erdbeerpflanzen sollten wieder helfen, dass der Ort zu alter Blüte zurückkehrt. Und Mitte der 1950er Jahre reihten sich wieder Marktschees an Marktschees in einer langen Reihe vor den Annahmestellen. Diese lagen nicht mehr am Bahnhof, sondern jetzt in der Heiligensteiner Hauptstraße, zuerst bei Lorenz Maier/Anton Schlosser, Heiligensteinerstr. 49, bei Anna Heil
Heiligensteinerstr. 57, dann bei Ludwig Kahlenberger, Heiligensteinerstr. 72 und im ehemaligen Raiffeisengelände (heute Bauhof). Die Händler kamen nun mit Lastkraftwagen und flugs war die Ware am gleichen Tag schon in Köln oder Dortmund.
Die Konkurrenz aus der EWG macht sich bemerkbar
Nicht nur das altersbedingte Ausscheiden von Georg Sitzenstuhl aus dem Vorstand im Jahr 1956 und der darauffolgende strenge Winter, der viele Pfirsichbäume vernichtete, sind die ersten Anzeichen eines Abklingens der „2. Blütezeit“ in Heiligenstein und Berghausen. Man setzte in der Folgezeit verstärkt auf Kernobst und zeitweise auf Rhabarber unter Folie, aber die immer stärker werdende Konkurrenz aus dem EWG-Markt brachte die Preise ins Wanken und manch einer entschloss sich zur Aufgabe. Das „Pfirsichparadies“ Heiligenstein und Berghausen war Vergangenheit.
(Heinz-Peter Schneider, Verein für Heimat- und Brauchtumspflege in Römerberg e.V., 2024)
Quellen
Aufzeichnungen von einem Gespräch mit Guido Heil am 17.07. 2025
Aufzeichnungen von einem Gespräch mit Lilo und Willi Kögel