Kioske im Ruhrgebiet

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Fachsicht(en): Kulturlandschaftspflege
  • Das steinerne Kiosk hieß auch Milchhäuschen und entstand 1935 (2016)

    Das steinerne Kiosk hieß auch Milchhäuschen und entstand 1935 (2016)

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  • Ein Eingang zum Tiefbunker unter dem Marktplatz befindet sich in dem als Kiosk genutzten Backsteinhäuschen (2013).

    Ein Eingang zum Tiefbunker unter dem Marktplatz befindet sich in dem als Kiosk genutzten Backsteinhäuschen (2013).

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„Hömma, lass ma anne Bude geh´n und Pilsken trinken.“
(hochdeutsch: „Komm, lass uns doch zur Trinkhalle gehen und ein Pils trinken.“)

Kioske (auch: Trinkhallen, Buden, Büdchen) sind nach dem heutigen Verständnis kleine Verkaufsstellen für Güter des sofortigen bis täglichen Bedarfs: Getränke, Genussmittel wie Süßigkeiten und Tabak, Zeitschriften und vieles mehr. Im Ruhrgebiet heißen sie im Volksmund meist „Bude“; mehr als 20.000 hat es hier einmal gegeben. Das Ruhrgebiet weist damit eine außergewöhnliche, historisch bedingte Dichte von Kiosken auf. Je nach Objekt der Begierde werden sie dort zum Beispiel auch „Klümpkesbude“ genannt (Klümpkes = Bonbons). Baulich können Kioske in kleineren einzelstehenden Gebäuden untergebracht sein (siehe Begriff Bude) oder in großen Gebäuden mit anderen Nutzungsformen kombiniert sein (Wohnen et cetera). Bei der Abgrenzung von Kiosken zu anderen Formen des Verkaufs im Einzelhandel sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen: unter anderem Produktvielfalt, Verkaufsfläche und (multi-)kulturelle Ausrichtung.

Geschichtlich geht der Begriff zurück in den islamischen Raum, wo er für pavillonartige Gebäude steht. Im Ruhrgebiet gibt es die Kioske seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der endgültige „Take-off“ zur Industrialisierung stattfand: Franz Haniel durchteufte 1834 die Mergelschicht und in der Friedrich-Wilhelms-Hütte in Mülheim wurde 1849 der Kokshochofen eingeführt (Boldt / Gelhar 2008). Die Korrelation von Bude und industriellen Evolutionen ist erst auf den zweiten Blick ersichtlich: Die Zechen- und Stahlarbeiter lehnten Leitungswasser aus gesundheitlichen Gründen ab, weil es als gesundheitsgefährdend galt. Nicht überraschend, da die Gewässer inzwischen einer ökologischen Hazardscape (Katastrophenlandschaft) entsprachen - die Emscher hatte damals den Ruf einer „Köttelbecke“.
Statt dessen frönte man dem Alkohol, unterstützt durch sogenannte „Schnapsspenden“ der Industriebarone. Die Kommunen zogen die Notbremse und versuchten, mit der finanziellen Förderung von Trinkhallen ein Gegengewicht zu schaffen. Hier gab es Alkoholfreies: Mineralwasser oder sogar Milch. Möglicherweise liegt hier auch der Ursprung für die lokal gebräuchliche Verwendung des Begriffs Trinkhalle, der eigenlich aus dem Kurbetrieb stammt und ein Synonym für die Brunnenhalle ist, wo es Heilwasser für die Kurgäste gibt. Die heutigen Trinkhallen stehen in dieser Tradition, sind aber in der Regel an anderen Standorten und in neueren, oft einzeln stehenden Gebäuden (Buden!) untergebracht (siehe oben). Trotz dieser relativ jungen Bausubstanz stehen die Gebäude der Kioske teils unter Denkmalsschutz oder stehen für besondere Stilelemente der Architektur des 20. Jahrhunderts.

Aktuell lässt die Dichte der Trinkhallen im Ruhrgebiet nach; oft werden ihre Gebäude für andere Nutzungen verwendet. Dieser Funktionswandel ist typisch für die postmoderne Veränderung der Kulturlandschaft und korreliert mit veränderten Werten und Verhaltensmustern. Versorgung erfolgt aktuell mehr oder weniger „en passant“ und auch das verbindende Gespräch an vertrauten Treffpunkten (Pläuschken) hat heute nicht mehr den Stellenwert, den es früher hatte. „Hasse dat schon gewusst?“ - die Bude als ruhrdeutscher Kommunikationsmittelpunkt ist lokal sogar schon von der Bildfläche verschwunden (Boldt / Gelhar 2008, Unterstell 2010). Interessanterweise sind Tankstellen zu Konkurrenten geworden, unter anderem weil sie diese schnelle Versorgungsfunktion ermöglichen. Häufig geraten die Buden auch in den Verdacht, Bestandteil sozialer Brennpunkte zu sein; dann wird etwa ein Ersatz durch Elemente postmoderner Stadtentwicklung gefordert. Ihr Rückbau ist in jedem Fall ein Verlust an regionaler Identität. Oder anders ausgedrückt: Sie fehlen dann als Kristallisations- und Ankerpunkte für eine soziale und gesellschaftliche Integration.

Am 20. August 2016 fand im Ruhrgebiet der „Erste Tag der Trinkhallen“ statt und damit eine Hommage an die dort tief verwurzelte „Trinkhallenkultur“. Kurz darauf gingen bei der „Oldtimer-Budentour“ vom 23. bis 25. September 2016 insgesamt 250 Old- und Youngtimer auf eine außergewöhnliche Rallye zu etwa 50 Buden und Trinkhallen in der Metropole Ruhr.

(Kai-William Boldt, Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz e. V. 2016)

Internet
www.ruhr-tourismus.de: Oldtimer-Budentour (abgerufen 17.01.2017)
www.spiegel.de: Trinkhallen im Ruhrgebiet, „Bunt, improvisiert, manchmal etwas abgefuckt“ (Spiegel-online 02.02.2019, abgerufen 02.02.2019)

Literatur

Boldt, Kai-William; Gelhar, Martina (2008)
Das Ruhrgebiet - Landschaft, Industrie, Kultur. Darmstadt.
Coddou H., Reinaldo; Gruszecki, Jan-Henrik (2018)
Treffpunkt Trinkhalle. Mannheim.

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Kai-William Boldt, 2016, „Kioske im Ruhrgebiet”. In: KuLaDig, Kultur.Landschaft.Digital. URL: https://www.kuladig.de/Objektansicht/SWB-263151 (Abgerufen: 30. April 2024)
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