An der Münzstraße (47-53), unmittelbar am ehemaligen Bahnhof Mittelbarmen und am Fuße des Arbeiterviertels „Sedansberg“, liegt ein imposantes Kontorgebäude mit dahinterliegendem Fabrikhof, einer Großbäckerei, Wohnhäusern und einem unterirdischen Eisenbahnanschluss. Im Giebel des Kontorgebäudes ist der Schriftzug „Vorwärts“ zu lesen, der auf die im Mai 1899 mit Unterstützung der örtlichen Gewerkschaften gegründete Genossenschaft „Vorwärts“ in Barmen hinweist. Fünf Jahre später wurde das Grundstück am damaligen Bahnhof „Heubruch“ erworben, auf dem bis 1907 eine Großbäckerei errichtet und die 1908 um ein Kontorgebäude erweitert wurde. Während des Ersten Weltkrieges trieb die Genossenschaft den Ausbau zur damals modernsten Großbäckerei des Bergischen Landes voran.
Konsumgenossenschaft Ziele der Konsumgenossenschaft waren die Versorgung ihrer Mitglieder mit möglichst guten und preiswerten Lebensmitteln, die direkte Mitbestimmung der Konsumenten in allen Fragen der Versorgung und, sofern sie sich als sozialdemokratische Genossenschaft verstand, zur Herausbildung einer selbstverwalteten, sozialistischen Wirtschaft beizutragen. Eduard Bernstein, einer der führenden Persönlichkeiten der SPD und Begründer des damals umstrittenen „Revisionismus“ („Der Weg ist das Ziel“), hatte 1899, im Gründungsjahr von „Vorwärts“, die Genossenschaften zur „Hauptgrundlage der sozialistischen Gesellschaft“ erklärt.
Seit 1905 gehörte es zur politischen Zielsetzung der Genossenschaften, ein Korrektiv gegen Preissteigerungen und schlechte Arbeitsbedingungen zu bilden. Zusammen mit den Gewerkschaften achteten sie auf die Durchsetzung von Tarifverträgen und bildeten einen Notfonds für Streiks. Den Mitgliedern bot sie reelle Preise, feste Gewichte und keine Kosten für als überflüssig erachtete Werbung. So wurden Lebensmittel nur aus Betrieben bezogen, in denen gute Arbeitsbedingungen und gewerkschaftliche Tarifverträge bestanden. Ziel war es jedoch, einen möglichst hohen Anteil der Waren aus eigenen bzw. genossenschaftlichen Betrieben zu beziehen. Das Motto der ersten in England gegründeten Konsumgenossenschaften lautete „Wir wollen unsere wirtschaftlichen Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen und darin behalten“. Dieser Wahlspruch wurde auch von den Wuppertaler Genossenschaftlern übernommen. Diesen Zwecken diente letztlich auch der Standort Münzstraße. Vom Hof aus bietet sich ein guter Überblick über alle Gebäude der ehemaligen Genossenschaftszentrale: Das Lager- und Bäckereigebäude von 1906, das Lager- und Kontorgebäude von 1908, die Wohnhäuser (um 1910), die „neue Bäckerei“ (1914-1916) und der Flachbau aus roten Backsteinen, der als ehemalige Remise die Fuhrwerke der Genossenschaft aufnahm.
Unter dem Hof befinden sich zwei Tiefgeschosse, die Kellereien der Genossenschaft. Hier befanden sich Lagerräume für Lebensmittel wie Wurst und Käse und eine Anlage zur Bierabfüllung. Die Kellereien hatten einen direkten Zugang zum nahe gelegenen Bahngelände. Über eine Bahntrasse konnten fort unten bis zu vier Wagons gleichzeitig entladen werden. So war das Entladen der Waren von der Witterung vollständig geschützt während der Abtransport der Lebensmittel über dem Hof in keiner Weise beeinträchtigt war. Heute ist der ehemalige Lichtschacht, mit der die Tiefgeschosse belüftet wurden, durch einen mit Teerpappe verkleideten Holzverschlag abgedeckt. Die Tiefgeschosse wurde damals, 1906, auch mit äußerst stabilen Glasbausteinen in der Betondecke belichtet, über die man auch mit Fuhrwerken fahren konnten.
Bäckerei Unterschieden wird in die „Alte“ und die „Neue“ Bäckerei. Im Oktober 1906 wurde in ersterer als ältestem Gebäude der Genossenschaft die Großbäckerei in Betrieb genommen. Das Mehl wurde über die Gleisanlage angeliefert und gelangte über einen Aufzug ins oberste zweite Geschoß, wo es gelagert, gereinigt und für die jeweiligen Brotsorten gemischt wurde. In der ersten Etage wurde der Teig bereitet, der dann über eine Schnecke in die Backstube im Erdgeschoss geführt wurde. Das Gebäude wurde mehrfach verändert. Die Bäckerei war zur Bauzeit sie Modernste und hygienischste der Stadt Barmen. Hier wurde das Brot für die ca. 4000 Mitgliedsfamilien gebacken. Im Untergeschoss erinnern die Kacheln an die Backstube.
Die „neue“ Bäckerei wurde während des Ersten Weltkrieges gebaut. Die Jahreszahlen finden sich über der Eingangstür: 1914-1916. Diese Bäckerei hatte eine Arbeitsfläche von etwa 4000 Quadratmeter – im Verhältnis zu der erst 10 Jahre zuvor errichteten Bäckerei von 600 Quadratmetern ein Vielfaches. Die „Vorwärts“-Bäckerei war zu dieser Zeit sicherlich die modernste und größte im Bergischen Land. Der Produktionsprozess lief über alle Etagen von oben nach unten: Mehllager im Dachgeschoß, Teigzubereitung im ersten Obergeschoss und die großen Backöfen standen hinter der Backhalle und wurden vom heizerstand aus befeuert, so das Feuerungs- und Backprozess sauber getrennt waren. Während des Ersten Weltkrieges trugen sich 27 Prozent der Barmer Bevölkerung in die Versorgungslisten der Konsumgenossenschaft „Vorwärts“ ein.
Lager- und Kontorhaus Das Lager- und Kontorhaus wurde zwischen 1905 und 1908 errichtet. Hinter der schmucken Jugendstilfassade verbirgt sich ein nüchternes Lagerhaus, das damals nach neuesten Baumethoden, mit einem Skelett aus Stahlbeton, errichte wurde. So entstanden große Lagerflächen, die durch keine tragenden Zwischenwände getrennt wurden und je nach Platzbedarf eingeteilt werden konnten. Die Etagen waren durch zwei Aufzüge mit der Zugtrasse im Tiefgeschoss verbunden waren. Ein Teil der Flächen wurden für Verwaltungszwecke genutzt. Über den Vordereingang, rechts, gelangten die Mitglieder zur genossenschaftseigenen Sparkasse, im Volksmund die „Arbeiterbank“ genannt, auf der ersten Etage. Die Spareinlagen der Mitglieder ermöglichten der Genossenschaft die Expansion. Über der Sparkasse lag der Versammlungssaal, der an dem schön gearbeiteten dreigliedrigen Fenster in der Fassade zu erkennen ist. 1913 war die Genossenschaft so groß, dass ein „Sekretariat“ eingerichtet wurde. Hier wurden Dienstleitungen wie die genossenschaftliche Sterbekasse oder Versicherungen der „Volksfürsorge“ angeboten. Die „Volksfürsorge“ war 1913 von den Gewerkschaften und dem Genossenschaftsverband als genossenschaftliches Versicherungsunternehmen gegründete worden. Das Gebäude gehört zu den ersten Bauwerken, die sich die Barmer Arbeiterschaft errichtete und steht für das wachsende Selbstbewusstsein der aufstrebenden Arbeiterbewegung.
Wegen der günstigen Lage am Bahnhof wurde die Fassade besonders aufwendig gestaltet: Mit Werksteinen, behauenen Kapitellen und einer Fenstervergitterung im modernen Geschmack der Zeit, im Jugendstil. Als die Bäume am Bahndamm noch nicht so hoch waren bildete sie den zentralen Blickpunkt für das gesamte Bahnhofsgelände Heubruch. Die Vorderfront mit ihrem Mittelrisalit, (dem hervorgehobenen Mittelteil), den Pilastern und Kapitellen aus Sandstein und dem Mansardendach erinnern ein wenig an eine barocke Schlossfassade. Ein (Sonnen-)strahlenförmiges Gitter – das Symbol der neuen Gesellschaft - und der Schriftzug „Vorwärts“ schmückte den Giebel. Der massive Sockelbereich wurde in Werksteinen ausgeführt und sollte die feste Gründung der Genossenschaft unterstreichen.
Bahnanschluss Gegenüber der Hauptfassade hat man einen Blick auf das ehemalige Bahngelände. Unterhalb der Straße befindet sich die Zugeinfahrt zu den Tiefgeschossen. Über diese eigene Zugtrasse war die Genossenschaftszentrale direkt mit dem Bahnnetz und dem ehemalige Güterbahnhof Mittelbarmen, später „Heubruch“, verbunden. So konnten Lebensmittel in großen Mengen gleich bei den Erzeugern geordert werden. Das Ziel der Genossenschaften war es, möglichst viele Produkte in genossenschaftlichen Produktionsbetrieben zu kaufen, um so ein nicht kapitalistisches, genossenschaftliches Wirtschaftssystem aufzubauen. Hierfür hatte der Bahnanschluss eine große Bedeutung. Die Bahntrasse führte unter das Lager- und Kontorhaus, und - über eine Drehscheibe - weiter zu den Kellern unter dem Hof bis zum Bäckereigebäude.
Rechts und links der Trasse befanden sich auf gleicher Höhe wie der Boden der Eisenbahnwagons Ladefenster, durch die die Waren in die Lagerräume gebracht wurden. Die Räume waren bis zur Decke gekachelt da sie für die Aufbewahrung frischer Lebensmittel, Käse, Wurst und Fleischwaren, bestimmt waren. Kühlkammern waren für die Aufbewahrung der Butter oder Käse vorgesehen, in einem anderen großen Raum stand die Bierabfüllanlage. Vom Tiefgeschoß gelangten die Waren mit drei Lastenaufzügen in die Obergeschoße des Lagerhauses oder der Bäckerei. Das zweite, untere Tiefgeschoss war für Kartoffel, Kohlen und anderes Schüttgut vorgesehen. Ein spezielles Belüftungssystem sorgte bei beständigen Luftaustausch und somit für hygienische Lagerungsbedingungen.
Gesamtanlage Die gesamte Anlage löste bei ihrer Fertigstellung im Oktober 1906 allgemeine Bewunderung aus. So eine moderne, rationelle und hygienische Anlage gab es bisher noch nicht und die Genossenschaft verweist stolz darauf, „was an Großem und Gutem durch den Zusammenschluss tausender Konsumenten geschaffen werden kann.“ Für die rationelle Verteilung der selbst erzeugten Backwaren und der günstig gekauften übrigen Lebensmittel war ein großer Fuhrpark nötig. Mit Pferdewagen, ab 1910 auch mit den ersten eigenen LKW, wurden die etwa 50 Verkaufsstellen (1914) der Konsumgenossenschaft, z. T. auch in den umliegenden Städten wie Ronsdorf und Hagen belieferten. Durch den Zusammenschluss mit den Konsumgenossenschaften in Elberfeld und Velbert unter dem Namen „Vorwärts-Befreiung“ war stetiges Wachstum gegeben, was bis 1931 zu Bau und Umzug in eine neue Zentrale im Stadtteil Clausen führte.
Entwicklung nach 1933 Das Gebäude selbst wird in den Zeiten des Nationalsozialismus nacheinander als SA-Kaserne, als illegale Haftanstalt für Antifaschisten, als Kaserne, aber auch als Umschulungsstätte für ca. 300 arbeitslose SA-Mitglieder oder Lagerraum genutzt. Auf der Backsteinfassade lassen sich einige alte Inschriften entziffern. Darunter die Inschrift „Reitersturm 1/72 – Eingang“. Nach der Bombardierung Wuppertals 1943 beherbergt das Gebäude das Notquartier der Lebensmittelgroßhandlung Koch & Mann (KOMA), eine der größten Lebensmittelgroßhandlungen in Westdeutschland. Darauf aufbauend erfolgt hier nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1951 die Bewirtschaftung der Lebensmittel mit Lebensmittelkarten. Von 1947 bis Ende der 1960er Jahre wird das Gebäude als Auffangquartier für Heimkehrer und Flüchtlinge, inklusive eines Kindergartens für 50 Flüchtlingskinder genutzt. Die Firma Koch & Mann bezieht einen neu errichteten Firmensitz in Elberfeld und verlässt das Gebäude Münzstraße bereits 1954.
Jüngere Entwicklung In den 1970er bis 1980er Jahren wechseln sich Vermietung an gewerbliche Mieter und die Nutzung als Asylantenheim ab. Im Jahre 1999 wird das Gebäude wegen seiner vielfältigen Funktionen unter Denkmalschutz gestellt, steht aber ab 2001 zunächst leer. Mit der Gründung des „Fördervereins Konsumgenossenschaft Vorwärts - Münzstraße e.V.“ im Mai 2004 beginnt die Aufarbeitung der Geschichte des Standortes, der 2014 nunmehr als Ausstellungsgebäude, aber auch als Werkstatt für Fortbildungsmaßnahmen genutzt wird.
In der näheren Umgebung finden sich in der Elstern- und der Sedanstraße noch einige andere Gebäude, die im engen Zusammenhang zur Konsumgenossenschaft stehen. Im Rahmen des Projektes des Landschaftsverbands Rheinland „1914 - Mitten in Europa, Das Rheinland und der Erste Weltkrieg“ fand vom 27. April bis 14. September 2014 im früheren „Mehllager“ der Genossenschaftsbäckerei „Vorwärts“. eine Ausstellung zum Thema „Mit uns zieht die neue Zeit...“ statt, die sich intensiv mit dem politischen und sozialem Hintergrund, aber auch dem damaligen Alltag der Menschen sowie der Technik in den einzelnen Gebäudeteilen beschäftigt.
(Reiner Rhefus, Stadt Wuppertal / Karl-Heinz Buchholz, LVR-Fachbereich Umwelt, 2014)
Die Konsumgenossenschaft Vorwärts war KuLaDig-Objekt des Monats im Juni 2014.
Internet www.vorwaerts-muenzstrasse.de: Förderverein Konsumgenossenschaft Vorwärts -Münzstraße e.V. (abgerufen 02.06.2014)
Der hier präsentierte Inhalt ist urheberrechtlich geschützt. Die angezeigten Medien unterliegen möglicherweise zusätzlichen urheberrechtlichen Bedingungen, die an diesen ausgewiesen sind.
Möchten Sie dieses Objekt in der Kuladig-App öffnen?
Wir verwenden Cookies
Dies sind zum einen technisch notwendige Cookies,
um die Funktionsfähigkeit der Seiten sicherzustellen. Diesen können Sie nicht widersprechen, wenn
Sie die Seite nutzen möchten. Darüber hinaus verwenden wir Cookies für eine Webanalyse, um die
Nutzbarkeit unserer Seiten zu optimieren, sofern Sie einverstanden sind. Mit Anklicken des Buttons
erklären Sie Ihr Einverständnis. Weitere Informationen finden Sie auf unserer Datenschutzseite.